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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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tere (das Vorzustellende) wirklich vorgestellt wird. So
genommen hat nun allerdings ein Jeder seine Begriffe
für sich; Archimedes untersuchte seinen eignen Be-
griff vom Kreise, und Newton gleichfalls den seinigen;
es waren dies zwey Begriffe im psychologischen Sinne,
wiewohl in logischer Hinsicht nur ein einziger für alle
Mathematiker. -- Auf den ersten Blick scheint vielleicht
diese Unterscheidung eine müssige Subtilität; das Gegen-
theil wird sich bald zeigen.

Zuvörderst müssen wir jetzt den Begriff in psycho-
logischer Bedeutung entgegensetzen der Empfindung, der
Einbildung, der Erinnerung; dann wird das Eigenthüm-
liche des Begriffs besser hervortreten.

Gesetzt, es sey in irgend einer Seele ohne Weite-
res eine gewisse Vorstellung, -- so wie wir in den Grund-
linien der Statik des Geistes anzunehmen pflegten, ohne
uns darum zu bekümmern, woher diese Vorstellung ent-
sprungen, und wie sie ins Bewusstseyn gekommen sey, --
alsdann ist diese Vorstellung ein Begriff; und wäre es
auch nur die Vorstellung der rothen Farbe, ja selbst nur
die einer bestimmten Nüance derselben mit einer bestimm-
ten Gestalt des Gefärbten. Denn Allgemeinheit ist gar
kein wesentliches Erforderniss zu einem Begriffe.

Nun aber findet sich in keiner Seele so ganz von
selbst eine Vorstellung; die Seele ist vielmehr ursprüng-
lich eine vollkommene tabula rasa, ohne alles Leben
oder Vorstellen. (§. 32.) Demnach giebt es keine ur-
sprünglichen Begriffe, auch keine Anlagen dazu; sondern
alle Begriffe sind etwas Gewordenes. Das erste
Werden einer Vorstellung erfordert eine Selbsterhaltung
der Seele gegen eine ihr fremdartige Störung. (§. 94.)
Die werdende Vorstellung nun heisst Empfindung oder
Wahrnehmung. So nennt man sie während der gan-
zen Dauer der Störung, (des sinnlichen Eindrucks), ohne
in der gemeinen Sprache darauf Acht zu geben, dass
eigentlich nur die momentanen Auffassungen den Zustand
des Empfindens ausmachen, während das dadurch erzeugte

II. M

tere (das Vorzustellende) wirklich vorgestellt wird. So
genommen hat nun allerdings ein Jeder seine Begriffe
für sich; Archimedes untersuchte seinen eignen Be-
griff vom Kreise, und Newton gleichfalls den seinigen;
es waren dies zwey Begriffe im psychologischen Sinne,
wiewohl in logischer Hinsicht nur ein einziger für alle
Mathematiker. — Auf den ersten Blick scheint vielleicht
diese Unterscheidung eine müſsige Subtilität; das Gegen-
theil wird sich bald zeigen.

Zuvörderst müssen wir jetzt den Begriff in psycho-
logischer Bedeutung entgegensetzen der Empfindung, der
Einbildung, der Erinnerung; dann wird das Eigenthüm-
liche des Begriffs besser hervortreten.

Gesetzt, es sey in irgend einer Seele ohne Weite-
res eine gewisse Vorstellung, — so wie wir in den Grund-
linien der Statik des Geistes anzunehmen pflegten, ohne
uns darum zu bekümmern, woher diese Vorstellung ent-
sprungen, und wie sie ins Bewuſstseyn gekommen sey, —
alsdann ist diese Vorstellung ein Begriff; und wäre es
auch nur die Vorstellung der rothen Farbe, ja selbst nur
die einer bestimmten Nüançe derselben mit einer bestimm-
ten Gestalt des Gefärbten. Denn Allgemeinheit ist gar
kein wesentliches Erforderniſs zu einem Begriffe.

Nun aber findet sich in keiner Seele so ganz von
selbst eine Vorstellung; die Seele ist vielmehr ursprüng-
lich eine vollkommene tabula rasa, ohne alles Leben
oder Vorstellen. (§. 32.) Demnach giebt es keine ur-
sprünglichen Begriffe, auch keine Anlagen dazu; sondern
alle Begriffe sind etwas Gewordenes. Das erste
Werden einer Vorstellung erfordert eine Selbsterhaltung
der Seele gegen eine ihr fremdartige Störung. (§. 94.)
Die werdende Vorstellung nun heiſst Empfindung oder
Wahrnehmung. So nennt man sie während der gan-
zen Dauer der Störung, (des sinnlichen Eindrucks), ohne
in der gemeinen Sprache darauf Acht zu geben, daſs
eigentlich nur die momentanen Auffassungen den Zustand
des Empfindens ausmachen, während das dadurch erzeugte

II. M
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[177/0212] tere (das Vorzustellende) wirklich vorgestellt wird. So genommen hat nun allerdings ein Jeder seine Begriffe für sich; Archimedes untersuchte seinen eignen Be- griff vom Kreise, und Newton gleichfalls den seinigen; es waren dies zwey Begriffe im psychologischen Sinne, wiewohl in logischer Hinsicht nur ein einziger für alle Mathematiker. — Auf den ersten Blick scheint vielleicht diese Unterscheidung eine müſsige Subtilität; das Gegen- theil wird sich bald zeigen. Zuvörderst müssen wir jetzt den Begriff in psycho- logischer Bedeutung entgegensetzen der Empfindung, der Einbildung, der Erinnerung; dann wird das Eigenthüm- liche des Begriffs besser hervortreten. Gesetzt, es sey in irgend einer Seele ohne Weite- res eine gewisse Vorstellung, — so wie wir in den Grund- linien der Statik des Geistes anzunehmen pflegten, ohne uns darum zu bekümmern, woher diese Vorstellung ent- sprungen, und wie sie ins Bewuſstseyn gekommen sey, — alsdann ist diese Vorstellung ein Begriff; und wäre es auch nur die Vorstellung der rothen Farbe, ja selbst nur die einer bestimmten Nüançe derselben mit einer bestimm- ten Gestalt des Gefärbten. Denn Allgemeinheit ist gar kein wesentliches Erforderniſs zu einem Begriffe. Nun aber findet sich in keiner Seele so ganz von selbst eine Vorstellung; die Seele ist vielmehr ursprüng- lich eine vollkommene tabula rasa, ohne alles Leben oder Vorstellen. (§. 32.) Demnach giebt es keine ur- sprünglichen Begriffe, auch keine Anlagen dazu; sondern alle Begriffe sind etwas Gewordenes. Das erste Werden einer Vorstellung erfordert eine Selbsterhaltung der Seele gegen eine ihr fremdartige Störung. (§. 94.) Die werdende Vorstellung nun heiſst Empfindung oder Wahrnehmung. So nennt man sie während der gan- zen Dauer der Störung, (des sinnlichen Eindrucks), ohne in der gemeinen Sprache darauf Acht zu geben, daſs eigentlich nur die momentanen Auffassungen den Zustand des Empfindens ausmachen, während das dadurch erzeugte II. M

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 177. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/212>, abgerufen am 25.04.2024.