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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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eines einzelnen Menschen. Mag indessen der Baum fer-
ner wachsen; für mich ist es nöthig, meine Bemühungen
nunmehr auf andre Weise fortzusetzen.

Dem analytischen Theile der Psychologie, der sich,
was die Tiefe der Untersuchung anlangt, auf den syn-
thetischen verlässt, kommt es zu, sich einen Werth von
anderer Art zu verschaffen, nämlich durch die Weite
des Gesichtsfeldes, das er umspannt. Er muss das gei-
stige Leben im Ganzen auffassen; daher gehört eigent-
lich das ganze Thierreich in seine Sphäre; und es ist das
erste Kennzeichen mangelhafter psychologischer Darstel-
lungen, wenn man ihnen ansieht, dass sie bei Gegenstän-
den, in Ansehung deren sich Menschen und Thiere gleich-
artig zeigen, doch von der Beobachtung jener erstern al-
ein abgezogen sind, und auf die letztern nur mit Zwang
übertragen werden können. Andererseits ist freylich alle
Beobachtung der Thierwelt so beschränkt, so unsicher,
und besonders so innig mit physiologischen Dingen ver-
webt: dass ich wenigstens für mich darauf Verzicht thue,
einen positiven Gewinn aus dieser grossen Klasse von
Thatsachen zu ziehen; genug wenn es mir glückt, einer
natürlichen Auslegung dessen, was die Thiere uns zeigen,
nicht durch übereilte Behauptungen in den Weg zu
treten.

Je gewisser ich nun in dieser Hinsicht eine Unvoll-
ständigkeit meiner Arbeit voraussehe: desto mehr wünschte
ich, nach einer andern Richtung hin die psychologische
Untersuchung zu erweitern. Der Mensch ist Nichts ausser
der Gesellschaft. Den völlig Einzelnen kennen wir gar
nicht; wir wissen nur soviel mit Bestimmtheit, dass die
Humanität ihm fehlen würde. Noch mehr: wir kennen
eigentlich nur den Menschen in gebildeter Gesellschaft.
Der Wilde ist uns nicht viel klärer wie das Thier. Wir
hören und lesen von ihm; aber wir fangen sogleich un-
willkührlich an, unser eignes Bild in ihm, als einem Spie-
gel, wieder aufzusuchen. Eine schlechtere Art, zu beob-
achten, kann es nun gar nicht geben; denn wenn das

eines einzelnen Menschen. Mag indessen der Baum fer-
ner wachsen; für mich ist es nöthig, meine Bemühungen
nunmehr auf andre Weise fortzusetzen.

Dem analytischen Theile der Psychologie, der sich,
was die Tiefe der Untersuchung anlangt, auf den syn-
thetischen verläſst, kommt es zu, sich einen Werth von
anderer Art zu verschaffen, nämlich durch die Weite
des Gesichtsfeldes, das er umspannt. Er muſs das gei-
stige Leben im Ganzen auffassen; daher gehört eigent-
lich das ganze Thierreich in seine Sphäre; und es ist das
erste Kennzeichen mangelhafter psychologischer Darstel-
lungen, wenn man ihnen ansieht, daſs sie bei Gegenstän-
den, in Ansehung deren sich Menschen und Thiere gleich-
artig zeigen, doch von der Beobachtung jener erstern al-
ein abgezogen sind, und auf die letztern nur mit Zwang
übertragen werden können. Andererseits ist freylich alle
Beobachtung der Thierwelt so beschränkt, so unsicher,
und besonders so innig mit physiologischen Dingen ver-
webt: daſs ich wenigstens für mich darauf Verzicht thue,
einen positiven Gewinn aus dieser groſsen Klasse von
Thatsachen zu ziehen; genug wenn es mir glückt, einer
natürlichen Auslegung dessen, was die Thiere uns zeigen,
nicht durch übereilte Behauptungen in den Weg zu
treten.

Je gewisser ich nun in dieser Hinsicht eine Unvoll-
ständigkeit meiner Arbeit voraussehe: desto mehr wünschte
ich, nach einer andern Richtung hin die psychologische
Untersuchung zu erweitern. Der Mensch ist Nichts auſser
der Gesellschaft. Den völlig Einzelnen kennen wir gar
nicht; wir wissen nur soviel mit Bestimmtheit, daſs die
Humanität ihm fehlen würde. Noch mehr: wir kennen
eigentlich nur den Menschen in gebildeter Gesellschaft.
Der Wilde ist uns nicht viel klärer wie das Thier. Wir
hören und lesen von ihm; aber wir fangen sogleich un-
willkührlich an, unser eignes Bild in ihm, als einem Spie-
gel, wieder aufzusuchen. Eine schlechtere Art, zu beob-
achten, kann es nun gar nicht geben; denn wenn das

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[2/0037] eines einzelnen Menschen. Mag indessen der Baum fer- ner wachsen; für mich ist es nöthig, meine Bemühungen nunmehr auf andre Weise fortzusetzen. Dem analytischen Theile der Psychologie, der sich, was die Tiefe der Untersuchung anlangt, auf den syn- thetischen verläſst, kommt es zu, sich einen Werth von anderer Art zu verschaffen, nämlich durch die Weite des Gesichtsfeldes, das er umspannt. Er muſs das gei- stige Leben im Ganzen auffassen; daher gehört eigent- lich das ganze Thierreich in seine Sphäre; und es ist das erste Kennzeichen mangelhafter psychologischer Darstel- lungen, wenn man ihnen ansieht, daſs sie bei Gegenstän- den, in Ansehung deren sich Menschen und Thiere gleich- artig zeigen, doch von der Beobachtung jener erstern al- ein abgezogen sind, und auf die letztern nur mit Zwang übertragen werden können. Andererseits ist freylich alle Beobachtung der Thierwelt so beschränkt, so unsicher, und besonders so innig mit physiologischen Dingen ver- webt: daſs ich wenigstens für mich darauf Verzicht thue, einen positiven Gewinn aus dieser groſsen Klasse von Thatsachen zu ziehen; genug wenn es mir glückt, einer natürlichen Auslegung dessen, was die Thiere uns zeigen, nicht durch übereilte Behauptungen in den Weg zu treten. Je gewisser ich nun in dieser Hinsicht eine Unvoll- ständigkeit meiner Arbeit voraussehe: desto mehr wünschte ich, nach einer andern Richtung hin die psychologische Untersuchung zu erweitern. Der Mensch ist Nichts auſser der Gesellschaft. Den völlig Einzelnen kennen wir gar nicht; wir wissen nur soviel mit Bestimmtheit, daſs die Humanität ihm fehlen würde. Noch mehr: wir kennen eigentlich nur den Menschen in gebildeter Gesellschaft. Der Wilde ist uns nicht viel klärer wie das Thier. Wir hören und lesen von ihm; aber wir fangen sogleich un- willkührlich an, unser eignes Bild in ihm, als einem Spie- gel, wieder aufzusuchen. Eine schlechtere Art, zu beob- achten, kann es nun gar nicht geben; denn wenn das

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/37>, abgerufen am 29.03.2024.