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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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hängt schwebend an seinen Bedingungen; es fällt weg,
wenn man den Faden abschneidet. So im Verschwinden
begriffen, wofern die Bedingungen es nicht hielten, muss
es gedacht werden; das ist, logisch genommen, die Be-
deutung desselben. Wie nun kommen wir dazu, etwas
als bedingt anzusehen? Die ursprüngliche Auffassung der
Welt, im Anschauen, und durch allgemeine Begriffe,
weiss davon nichts. Dem gemeinen Menschen ruhet der
Erdboden; und wenn nach dem empirischen Begriffe der
Schwere etwan der Himmel droht zu fallen, so braucht
man ihm nur den Atlas oder die Säulen des Herkules
zur Stütze zu geben, dann steht er vest. Eben so gilt
jedes sinnliche Ding für ein Seyendes, eine ousia; und
jedes, wovon Ereignisse herkommen, für eine aitia;
so haben wir diese Begriffe oben bey den Kategorien
(§. 124.) gefunden. Nun sind zwar die Vorstellungs-
reihen ähnlicher Folgen unter ähnlichen Um-
ständen
von der Beschaffenheit, dass sie nicht ablaufen
können, wenn ihre Anfangsglieder aufgehoben werden;
und so kann Manches als bedingt erscheinen, und als
abhängig von gewissen Bedingungen, deren es nicht ein-
mal bedarf, weil es auch unter andern Umständen mög-
lich ist. Allein wenn gleich auf diese Weise die Menge
des Bedingten sogar überflüssig gross, und die Sphäre
der Bedingungen enger, als sie ist, erscheint: so macht
doch diese Vorstellungsart noch immer nicht das Unbe-
dingte bemerklich, und zwar gerade darum nicht, weil
dessen, was wirklich als bedingend, selbst aber unbedingt
gedacht wird, -- indem die Frage, ob es bedingt sey
oder unbedingt? gar nicht erhoben wurde, -- noch so
sehr Vieles vorhanden ist. Aber wir kennen auch schon
den höheren Standpunct, auf welchem diese Frage sich
einstellt, und sich überall gelten macht; dergestalt, dass
der Boden der Sinnenwelt anfängt zu wanken, und ge-
gen seine allgemeine Unsicherheit eine veste Zuflucht
gesucht wird. Die Urtheile, welche den Dingen ihre
Prädicate einzeln beylegen, (§. 141.), sind das Schmelz-

hängt schwebend an seinen Bedingungen; es fällt weg,
wenn man den Faden abschneidet. So im Verschwinden
begriffen, wofern die Bedingungen es nicht hielten, muſs
es gedacht werden; das ist, logisch genommen, die Be-
deutung desselben. Wie nun kommen wir dazu, etwas
als bedingt anzusehen? Die ursprüngliche Auffassung der
Welt, im Anschauen, und durch allgemeine Begriffe,
weiſs davon nichts. Dem gemeinen Menschen ruhet der
Erdboden; und wenn nach dem empirischen Begriffe der
Schwere etwan der Himmel droht zu fallen, so braucht
man ihm nur den Atlas oder die Säulen des Herkules
zur Stütze zu geben, dann steht er vest. Eben so gilt
jedes sinnliche Ding für ein Seyendes, eine ὀυσία; und
jedes, wovon Ereignisse herkommen, für eine ἀιτία;
so haben wir diese Begriffe oben bey den Kategorien
(§. 124.) gefunden. Nun sind zwar die Vorstellungs-
reihen ähnlicher Folgen unter ähnlichen Um-
ständen
von der Beschaffenheit, daſs sie nicht ablaufen
können, wenn ihre Anfangsglieder aufgehoben werden;
und so kann Manches als bedingt erscheinen, und als
abhängig von gewissen Bedingungen, deren es nicht ein-
mal bedarf, weil es auch unter andern Umständen mög-
lich ist. Allein wenn gleich auf diese Weise die Menge
des Bedingten sogar überflüssig groſs, und die Sphäre
der Bedingungen enger, als sie ist, erscheint: so macht
doch diese Vorstellungsart noch immer nicht das Unbe-
dingte bemerklich, und zwar gerade darum nicht, weil
dessen, was wirklich als bedingend, selbst aber unbedingt
gedacht wird, — indem die Frage, ob es bedingt sey
oder unbedingt? gar nicht erhoben wurde, — noch so
sehr Vieles vorhanden ist. Aber wir kennen auch schon
den höheren Standpunct, auf welchem diese Frage sich
einstellt, und sich überall gelten macht; dergestalt, daſs
der Boden der Sinnenwelt anfängt zu wanken, und ge-
gen seine allgemeine Unsicherheit eine veste Zuflucht
gesucht wird. Die Urtheile, welche den Dingen ihre
Prädicate einzeln beylegen, (§. 141.), sind das Schmelz-

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[388/0423] hängt schwebend an seinen Bedingungen; es fällt weg, wenn man den Faden abschneidet. So im Verschwinden begriffen, wofern die Bedingungen es nicht hielten, muſs es gedacht werden; das ist, logisch genommen, die Be- deutung desselben. Wie nun kommen wir dazu, etwas als bedingt anzusehen? Die ursprüngliche Auffassung der Welt, im Anschauen, und durch allgemeine Begriffe, weiſs davon nichts. Dem gemeinen Menschen ruhet der Erdboden; und wenn nach dem empirischen Begriffe der Schwere etwan der Himmel droht zu fallen, so braucht man ihm nur den Atlas oder die Säulen des Herkules zur Stütze zu geben, dann steht er vest. Eben so gilt jedes sinnliche Ding für ein Seyendes, eine ὀυσία; und jedes, wovon Ereignisse herkommen, für eine ἀιτία; so haben wir diese Begriffe oben bey den Kategorien (§. 124.) gefunden. Nun sind zwar die Vorstellungs- reihen ähnlicher Folgen unter ähnlichen Um- ständen von der Beschaffenheit, daſs sie nicht ablaufen können, wenn ihre Anfangsglieder aufgehoben werden; und so kann Manches als bedingt erscheinen, und als abhängig von gewissen Bedingungen, deren es nicht ein- mal bedarf, weil es auch unter andern Umständen mög- lich ist. Allein wenn gleich auf diese Weise die Menge des Bedingten sogar überflüssig groſs, und die Sphäre der Bedingungen enger, als sie ist, erscheint: so macht doch diese Vorstellungsart noch immer nicht das Unbe- dingte bemerklich, und zwar gerade darum nicht, weil dessen, was wirklich als bedingend, selbst aber unbedingt gedacht wird, — indem die Frage, ob es bedingt sey oder unbedingt? gar nicht erhoben wurde, — noch so sehr Vieles vorhanden ist. Aber wir kennen auch schon den höheren Standpunct, auf welchem diese Frage sich einstellt, und sich überall gelten macht; dergestalt, daſs der Boden der Sinnenwelt anfängt zu wanken, und ge- gen seine allgemeine Unsicherheit eine veste Zuflucht gesucht wird. Die Urtheile, welche den Dingen ihre Prädicate einzeln beylegen, (§. 141.), sind das Schmelz-

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 388. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/423>, abgerufen am 24.04.2024.