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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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fener, worin die Dinge zerfliessen; und zwar um desto
leichter, wenn die Veränderlichkeit der Merkmale auf
empirischem Wege zu Hülfe kommt, um das Aggregat
der Prädicate zu trennen. Dadurch verliert die Thesis,
wodurch die Dinge als Solche und keine andre gedacht
werden, ihre Vestigkeit, indem ihr Gegenstand verschwin-
det. Der Mensch erschrickt, wenn auf einmal statt des
bekannten Dinges sich ihm das dunkle, unbekannte, un-
erkennbare Substrat aufdringt, welches er mehr zu füh-
len als zu sehen glaubt, da er es in gar keine bestimmte
Form bringen kann, und nicht einmal eine Analogie da-
für besitzt. Das einzige Kennzeichen jedes einzelnen
Substrats ist, dass es einem bestimmten sinnlichen Dinge
zugehören soll. Aber die Dinge sind Complexionen von
Merkmalen; jedes Merkmal liegt in einem qualitativen
Continuum; (§. 139.) und die Combination der Merk-
male des wirklichen Dinges ist nur eine unter vielen.
Daher wird die Vorstellung eines jeden Dinges in allen
seinen Merkmalen veränderlich; selbst dann, wenn die
Erfahrung keine Veränderung desselben vor Augen legt.
Man kann aus gegebenen Reihen von Merkmalen alle
möglichen Dinge, die sich dadurch bestimmen lassen,
durch vollständiges Combiniren leicht finden; aus der
Mitte dieser Möglichkeit erscheint nun die kleinere Menge
der wirklichen Dinge zufällig herausgehoben; und in
der Einbildung, als wären die gefundenen Mög-
lichkeiten ein wirklicher Vorrath
, fragt die mensch-
liche Neugier nach dem Grunde, vermöge dessen nun
gerade diese und keine andern Dinge wirklich geworden, --
aus dem Gebiete der Möglichkeit, gleichsam wie aus ei-
ner Vorhalle, in die Wirklichkeit hinübergetreten seyen?
Die Gedankendinge, welche wir uns selbst geschaffen
haben, wollen nicht weichen vor den gegebenen; sie su-
chen ihren Platz zu behaupten, vermöge des in ihnen
liegenden Strebens aller Vorstellungen, und aller daraus,
gleichviel wie? zusammengesetzten Complexionen.

Liesse man alle Fehler und Verwechselungen weg:

fener, worin die Dinge zerflieſsen; und zwar um desto
leichter, wenn die Veränderlichkeit der Merkmale auf
empirischem Wege zu Hülfe kommt, um das Aggregat
der Prädicate zu trennen. Dadurch verliert die Thesis,
wodurch die Dinge als Solche und keine andre gedacht
werden, ihre Vestigkeit, indem ihr Gegenstand verschwin-
det. Der Mensch erschrickt, wenn auf einmal statt des
bekannten Dinges sich ihm das dunkle, unbekannte, un-
erkennbare Substrat aufdringt, welches er mehr zu füh-
len als zu sehen glaubt, da er es in gar keine bestimmte
Form bringen kann, und nicht einmal eine Analogie da-
für besitzt. Das einzige Kennzeichen jedes einzelnen
Substrats ist, daſs es einem bestimmten sinnlichen Dinge
zugehören soll. Aber die Dinge sind Complexionen von
Merkmalen; jedes Merkmal liegt in einem qualitativen
Continuum; (§. 139.) und die Combination der Merk-
male des wirklichen Dinges ist nur eine unter vielen.
Daher wird die Vorstellung eines jeden Dinges in allen
seinen Merkmalen veränderlich; selbst dann, wenn die
Erfahrung keine Veränderung desselben vor Augen legt.
Man kann aus gegebenen Reihen von Merkmalen alle
möglichen Dinge, die sich dadurch bestimmen lassen,
durch vollständiges Combiniren leicht finden; aus der
Mitte dieser Möglichkeit erscheint nun die kleinere Menge
der wirklichen Dinge zufällig herausgehoben; und in
der Einbildung, als wären die gefundenen Mög-
lichkeiten ein wirklicher Vorrath
, fragt die mensch-
liche Neugier nach dem Grunde, vermöge dessen nun
gerade diese und keine andern Dinge wirklich geworden, —
aus dem Gebiete der Möglichkeit, gleichsam wie aus ei-
ner Vorhalle, in die Wirklichkeit hinübergetreten seyen?
Die Gedankendinge, welche wir uns selbst geschaffen
haben, wollen nicht weichen vor den gegebenen; sie su-
chen ihren Platz zu behaupten, vermöge des in ihnen
liegenden Strebens aller Vorstellungen, und aller daraus,
gleichviel wie? zusammengesetzten Complexionen.

Lieſse man alle Fehler und Verwechselungen weg:

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[389/0424] fener, worin die Dinge zerflieſsen; und zwar um desto leichter, wenn die Veränderlichkeit der Merkmale auf empirischem Wege zu Hülfe kommt, um das Aggregat der Prädicate zu trennen. Dadurch verliert die Thesis, wodurch die Dinge als Solche und keine andre gedacht werden, ihre Vestigkeit, indem ihr Gegenstand verschwin- det. Der Mensch erschrickt, wenn auf einmal statt des bekannten Dinges sich ihm das dunkle, unbekannte, un- erkennbare Substrat aufdringt, welches er mehr zu füh- len als zu sehen glaubt, da er es in gar keine bestimmte Form bringen kann, und nicht einmal eine Analogie da- für besitzt. Das einzige Kennzeichen jedes einzelnen Substrats ist, daſs es einem bestimmten sinnlichen Dinge zugehören soll. Aber die Dinge sind Complexionen von Merkmalen; jedes Merkmal liegt in einem qualitativen Continuum; (§. 139.) und die Combination der Merk- male des wirklichen Dinges ist nur eine unter vielen. Daher wird die Vorstellung eines jeden Dinges in allen seinen Merkmalen veränderlich; selbst dann, wenn die Erfahrung keine Veränderung desselben vor Augen legt. Man kann aus gegebenen Reihen von Merkmalen alle möglichen Dinge, die sich dadurch bestimmen lassen, durch vollständiges Combiniren leicht finden; aus der Mitte dieser Möglichkeit erscheint nun die kleinere Menge der wirklichen Dinge zufällig herausgehoben; und in der Einbildung, als wären die gefundenen Mög- lichkeiten ein wirklicher Vorrath, fragt die mensch- liche Neugier nach dem Grunde, vermöge dessen nun gerade diese und keine andern Dinge wirklich geworden, — aus dem Gebiete der Möglichkeit, gleichsam wie aus ei- ner Vorhalle, in die Wirklichkeit hinübergetreten seyen? Die Gedankendinge, welche wir uns selbst geschaffen haben, wollen nicht weichen vor den gegebenen; sie su- chen ihren Platz zu behaupten, vermöge des in ihnen liegenden Strebens aller Vorstellungen, und aller daraus, gleichviel wie? zusammengesetzten Complexionen. Lieſse man alle Fehler und Verwechselungen weg:

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 389. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/424>, abgerufen am 25.04.2024.