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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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Schlimmer als diese Fehler ist der Umstand, dass Kan
sich von seiner falschen Causalitäts-Lehre leiten liess; ja
dass er bey der dritten Antinomie gar die Thesis mit der
Antithesis verwechselte. Denn hier liegt die Freyheit, in
dem Sinne, wie Kant sie an diesem Orte bestimmt,
ganz auf der Seite der Antithesis; einestheils, weil sie,
gehörig entwickelt, auf eine unendliche Reihe führt, (in-
dem jede Selbstbestimmung eine Veränderung ist, und
jede dieser Veränderungen, wenn man einmal die Frey-
heit voraussetzt, eine frühere Selbstbestimmung erfordert;)
anderntheils, weil sie die Vestigkeit des Bodens unter-
gräbt, auf welchem alle Natur-Erklärungen ruhen sollen.
Man kann dieses kaum stärker ausdrücken, als Kant es
am Ende der Anmerkung zur dritten Antithesis selbst ge-
than hat, wo er sagt: "Es lässt sich neben einem sol-
chen gesetzlosen Vermögen der Freyheit, kaum noch
Natur denken; weil die Gesetze der letztern durch die
Einflüsse der erstem unaufhörlich abgeändert, und das
Spiel der Erscheinungen, welches nach der blossen Na-
tur regelmässig und gleichförmig seyn würde, dadurch
verwirrt und unzusammenhängend gemacht wird." Eine
so grosse Wahrheit in einem Winkelchen der Anmer-
kung zur Antithese anbringen, heisst das Licht unter den
Scheffel stellen; und kann nur von denen mit Conse-
quenz gebilligt werden, die allenfalls auch einen frommen
Betrug für erlaubt halten; wovon doch Kant, nach sei-
nem ganzen Charakter, himmelweit entfernt war. Der
Erklärungsgrund liegt vielmehr ganz in seiner praktischen
Philosophie, die er für eine ursprüngliche Pflichten-
lehre hielt.

Das schlimmste Resultat aus allen den im Einzelnen
begangenen Fehlern ist der Umstand, dass eine Zer-
streuung und Ablenkung von der Hauptsache hervorge-
bracht wird. Nicht die einzelnen Antinomien aber sind

setze. Bewegungen der Sterne, und gewisse Formen des innern
Geschehens, sind nicht das was ist, oder für seyend soll gehalten
werden; das wäre die ärgste aller Verwechselungen.

Schlimmer als diese Fehler ist der Umstand, daſs Kan
sich von seiner falschen Causalitäts-Lehre leiten lieſs; ja
daſs er bey der dritten Antinomie gar die Thesis mit der
Antithesis verwechselte. Denn hier liegt die Freyheit, in
dem Sinne, wie Kant sie an diesem Orte bestimmt,
ganz auf der Seite der Antithesis; einestheils, weil sie,
gehörig entwickelt, auf eine unendliche Reihe führt, (in-
dem jede Selbstbestimmung eine Veränderung ist, und
jede dieser Veränderungen, wenn man einmal die Frey-
heit voraussetzt, eine frühere Selbstbestimmung erfordert;)
anderntheils, weil sie die Vestigkeit des Bodens unter-
gräbt, auf welchem alle Natur-Erklärungen ruhen sollen.
Man kann dieses kaum stärker ausdrücken, als Kant es
am Ende der Anmerkung zur dritten Antithesis selbst ge-
than hat, wo er sagt: „Es läſst sich neben einem sol-
chen gesetzlosen Vermögen der Freyheit, kaum noch
Natur denken; weil die Gesetze der letztern durch die
Einflüsse der erstem unaufhörlich abgeändert, und das
Spiel der Erscheinungen, welches nach der bloſsen Na-
tur regelmäſsig und gleichförmig seyn würde, dadurch
verwirrt und unzusammenhängend gemacht wird.“ Eine
so groſse Wahrheit in einem Winkelchen der Anmer-
kung zur Antithese anbringen, heiſst das Licht unter den
Scheffel stellen; und kann nur von denen mit Conse-
quenz gebilligt werden, die allenfalls auch einen frommen
Betrug für erlaubt halten; wovon doch Kant, nach sei-
nem ganzen Charakter, himmelweit entfernt war. Der
Erklärungsgrund liegt vielmehr ganz in seiner praktischen
Philosophie, die er für eine ursprüngliche Pflichten-
lehre hielt.

Das schlimmste Resultat aus allen den im Einzelnen
begangenen Fehlern ist der Umstand, daſs eine Zer-
streuung und Ablenkung von der Hauptsache hervorge-
bracht wird. Nicht die einzelnen Antinomien aber sind

setze. Bewegungen der Sterne, und gewisse Formen des innern
Geschehens, sind nicht das was ist, oder für seyend soll gehalten
werden; das wäre die ärgste aller Verwechselungen.
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[395/0430] Schlimmer als diese Fehler ist der Umstand, daſs Kan sich von seiner falschen Causalitäts-Lehre leiten lieſs; ja daſs er bey der dritten Antinomie gar die Thesis mit der Antithesis verwechselte. Denn hier liegt die Freyheit, in dem Sinne, wie Kant sie an diesem Orte bestimmt, ganz auf der Seite der Antithesis; einestheils, weil sie, gehörig entwickelt, auf eine unendliche Reihe führt, (in- dem jede Selbstbestimmung eine Veränderung ist, und jede dieser Veränderungen, wenn man einmal die Frey- heit voraussetzt, eine frühere Selbstbestimmung erfordert;) anderntheils, weil sie die Vestigkeit des Bodens unter- gräbt, auf welchem alle Natur-Erklärungen ruhen sollen. Man kann dieses kaum stärker ausdrücken, als Kant es am Ende der Anmerkung zur dritten Antithesis selbst ge- than hat, wo er sagt: „Es läſst sich neben einem sol- chen gesetzlosen Vermögen der Freyheit, kaum noch Natur denken; weil die Gesetze der letztern durch die Einflüsse der erstem unaufhörlich abgeändert, und das Spiel der Erscheinungen, welches nach der bloſsen Na- tur regelmäſsig und gleichförmig seyn würde, dadurch verwirrt und unzusammenhängend gemacht wird.“ Eine so groſse Wahrheit in einem Winkelchen der Anmer- kung zur Antithese anbringen, heiſst das Licht unter den Scheffel stellen; und kann nur von denen mit Conse- quenz gebilligt werden, die allenfalls auch einen frommen Betrug für erlaubt halten; wovon doch Kant, nach sei- nem ganzen Charakter, himmelweit entfernt war. Der Erklärungsgrund liegt vielmehr ganz in seiner praktischen Philosophie, die er für eine ursprüngliche Pflichten- lehre hielt. Das schlimmste Resultat aus allen den im Einzelnen begangenen Fehlern ist der Umstand, daſs eine Zer- streuung und Ablenkung von der Hauptsache hervorge- bracht wird. Nicht die einzelnen Antinomien aber sind *) *) setze. Bewegungen der Sterne, und gewisse Formen des innern Geschehens, sind nicht das was ist, oder für seyend soll gehalten werden; das wäre die ärgste aller Verwechselungen.

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 395. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/430>, abgerufen am 29.03.2024.