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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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lichen Menschen auf der Erde, verschwinden, ihr treuer
Gefährte, der Mond, schon seine grossen Vorrathshäu-
ser bereit hält, damit nichts davon verloren gehe. Eine
so tröstliche Nebenbemerkung für die Psychologie, be-
darf hier hoffentlich um so weniger einer Entschuldigung,
da ja dem Ariost, der sich viel weiter und plötzlicher
abzuschweifen erlaubt, von seinen Verehrern dieses als
eine geniale Verwirrung und die Unübersehbarkeit seines
Gedichts als ein Vorzug desselben angerechnet wird.

Dem Dichter zu erlauben, was man dem Menschen
verbietet, ist eine alte Weise deren, die für die sittlichen
Beschränkungen des Lebens sich wenigstens im Traume
schadlos halten wollen. Nicht ihr individueller Geschmack
hatte sich für das Sittliche geläutert, sondern es ist ihnen
aufgedrungen worden. -- Damit bunte Possen berühmt
werden, dazu ist kein ästhetisches Urtheil nöthig; das
Ergötzen eines sinnlichen Volkes, das seine phantastische
Zügellosigkeit, seine Zerrissenheit, seine Unfähigkeit, mit
sich selbst in ein würdevolles Gleichgewicht zu treten,
darin abgespiegelt sieht, -- gründet diesen Ruhm; Andre
loben, was einmal berühmt ist, was aus dem Lande ihrer
Sehnsucht kommt, und vor Allem, was übergross als
Ganzes, glatt und zierlich in seinen Theilen erscheint;
was durch gewandte Prahlerey imponirt.

Aber jenes Ergötzen und diese Unsicherheit des Ge-
schmacks kommen darin überein, dass beydes höchst
natürlich
ist. Oder wird Jemand dafür eine überna-
türliche Erklärung suchen? Diese Frage ist nicht unbe-
deutend; sie hängt zusammen mit der andern Frage: ob
das Böse einen übernatürlichen Ursprung voraussetze?
Die Verstimmung des Geschmacks, der sich durch falsche
Grösse blenden lässt, bezieht sich nicht bloss auf Dich-
terwerke, sondern auch auf den Werth der Personen;
ja selbst auf philosophische Productionen. Ariost und
Spinoza kommen darin überein, dass beyde ein grosses
Knäuel geschaffen haben, welches den Anschauenden de-
müthigt, ihm Respect einflösst, weil, indem er den ein-

lichen Menschen auf der Erde, verschwinden, ihr treuer
Gefährte, der Mond, schon seine groſsen Vorrathshäu-
ser bereit hält, damit nichts davon verloren gehe. Eine
so tröstliche Nebenbemerkung für die Psychologie, be-
darf hier hoffentlich um so weniger einer Entschuldigung,
da ja dem Ariost, der sich viel weiter und plötzlicher
abzuschweifen erlaubt, von seinen Verehrern dieses als
eine geniale Verwirrung und die Unübersehbarkeit seines
Gedichts als ein Vorzug desselben angerechnet wird.

Dem Dichter zu erlauben, was man dem Menschen
verbietet, ist eine alte Weise deren, die für die sittlichen
Beschränkungen des Lebens sich wenigstens im Traume
schadlos halten wollen. Nicht ihr individueller Geschmack
hatte sich für das Sittliche geläutert, sondern es ist ihnen
aufgedrungen worden. — Damit bunte Possen berühmt
werden, dazu ist kein ästhetisches Urtheil nöthig; das
Ergötzen eines sinnlichen Volkes, das seine phantastische
Zügellosigkeit, seine Zerrissenheit, seine Unfähigkeit, mit
sich selbst in ein würdevolles Gleichgewicht zu treten,
darin abgespiegelt sieht, — gründet diesen Ruhm; Andre
loben, was einmal berühmt ist, was aus dem Lande ihrer
Sehnsucht kommt, und vor Allem, was übergroſs als
Ganzes, glatt und zierlich in seinen Theilen erscheint;
was durch gewandte Prahlerey imponirt.

Aber jenes Ergötzen und diese Unsicherheit des Ge-
schmacks kommen darin überein, daſs beydes höchst
natürlich
ist. Oder wird Jemand dafür eine überna-
türliche Erklärung suchen? Diese Frage ist nicht unbe-
deutend; sie hängt zusammen mit der andern Frage: ob
das Böse einen übernatürlichen Ursprung voraussetze?
Die Verstimmung des Geschmacks, der sich durch falsche
Gröſse blenden läſst, bezieht sich nicht bloſs auf Dich-
terwerke, sondern auch auf den Werth der Personen;
ja selbst auf philosophische Productionen. Ariost und
Spinoza kommen darin überein, daſs beyde ein groſses
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müthigt, ihm Respect einflöſst, weil, indem er den ein-

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[438/0473] lichen Menschen auf der Erde, verschwinden, ihr treuer Gefährte, der Mond, schon seine groſsen Vorrathshäu- ser bereit hält, damit nichts davon verloren gehe. Eine so tröstliche Nebenbemerkung für die Psychologie, be- darf hier hoffentlich um so weniger einer Entschuldigung, da ja dem Ariost, der sich viel weiter und plötzlicher abzuschweifen erlaubt, von seinen Verehrern dieses als eine geniale Verwirrung und die Unübersehbarkeit seines Gedichts als ein Vorzug desselben angerechnet wird. Dem Dichter zu erlauben, was man dem Menschen verbietet, ist eine alte Weise deren, die für die sittlichen Beschränkungen des Lebens sich wenigstens im Traume schadlos halten wollen. Nicht ihr individueller Geschmack hatte sich für das Sittliche geläutert, sondern es ist ihnen aufgedrungen worden. — Damit bunte Possen berühmt werden, dazu ist kein ästhetisches Urtheil nöthig; das Ergötzen eines sinnlichen Volkes, das seine phantastische Zügellosigkeit, seine Zerrissenheit, seine Unfähigkeit, mit sich selbst in ein würdevolles Gleichgewicht zu treten, darin abgespiegelt sieht, — gründet diesen Ruhm; Andre loben, was einmal berühmt ist, was aus dem Lande ihrer Sehnsucht kommt, und vor Allem, was übergroſs als Ganzes, glatt und zierlich in seinen Theilen erscheint; was durch gewandte Prahlerey imponirt. Aber jenes Ergötzen und diese Unsicherheit des Ge- schmacks kommen darin überein, daſs beydes höchst natürlich ist. Oder wird Jemand dafür eine überna- türliche Erklärung suchen? Diese Frage ist nicht unbe- deutend; sie hängt zusammen mit der andern Frage: ob das Böse einen übernatürlichen Ursprung voraussetze? Die Verstimmung des Geschmacks, der sich durch falsche Gröſse blenden läſst, bezieht sich nicht bloſs auf Dich- terwerke, sondern auch auf den Werth der Personen; ja selbst auf philosophische Productionen. Ariost und Spinoza kommen darin überein, daſs beyde ein groſses Knäuel geschaffen haben, welches den Anschauenden de- müthigt, ihm Respect einflöſst, weil, indem er den ein-

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 438. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/473>, abgerufen am 18.04.2024.