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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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dass der äussere Zustand, d. i. die räumliche Lage, dem
innern Zustande, d. h. den Selbsterhaltungen der Wesen,
völlig entspreche. Die Entwickelung dieser Sätze erfor-
dert zum Theil unmögliche Begriffe, welche aber im
Laufe des Räsonnements eben so ihre bestimmte Stelle
und ihren gesetzmässigen Gebrauch haben, wie die un-
möglichen Grössen in manchen mathematischen Beweisen.

Unmittelbar folgt aus dem Gesagten, dass kein ein-
ziges Theilchen der Materie darf angesehen werden als
bloss räumlich bestimmt, sondern dass in jedem gewisse
völlig unräumliche, und bloss innere Zustände, nämlich
Selbsterhaltungen vorkommen, von welchen selbst die
räumliche Constitution eines Körpers ganz und gar ab-
hängt. Vollends aber diejenigen einfachen Wesen, die
zu Bestandtheilen eines organischen Körpers dienen, tra-
gen in sich ganze Systeme von Selbsterhaltungen, ähn-
lich den Systemen der Vorstellungen in einem gebilde-
ten Geiste. Was für Systeme das seyen, dies richtet
sich nach der Art und dem Grade der Assimilation, die
sie in dem organischen Körper, dessen Bestandtheile sie
ausmachen, schon erlangt haben.

Die organische, oder vegetative Lebenskraft, -- wohl
zu unterscheiden von der Seele, ist demnach keine reale
Einheit, sondern ein allgemeiner und noch sehr unbe-
stimmter Begriff, welcher hindeutet auf die gesammte
innere Bildung, das heisst, auf die gesammten Systeme
von Selbsterhaltungen in allen Bestandtheilen des Leibes.
Sollte man sagen, was die Lebenskraft eigentlich sey?
so müsste man alle diese Elemente des Leibes einzeln
durchgehn, und beschreiben, theils, welche Bildung in
ihnen sey, welcher äussere Zustand, welche räumliche
Lage und Bewegung aus ihrer Bildung, und aus derjeni-
gen der zunächst liegenden Elemente zusammengenommen
erfolge.

Die Reizbarkeit ist nur in ihren Aeusserungen etwas
räumliches. Sie hat ebenfalls ihren Sitz in der innern
Bildung, und kennten wir die letztere, so würden wir

daſs der äuſsere Zustand, d. i. die räumliche Lage, dem
innern Zustande, d. h. den Selbsterhaltungen der Wesen,
völlig entspreche. Die Entwickelung dieser Sätze erfor-
dert zum Theil unmögliche Begriffe, welche aber im
Laufe des Räsonnements eben so ihre bestimmte Stelle
und ihren gesetzmäſsigen Gebrauch haben, wie die un-
möglichen Gröſsen in manchen mathematischen Beweisen.

Unmittelbar folgt aus dem Gesagten, daſs kein ein-
ziges Theilchen der Materie darf angesehen werden als
bloſs räumlich bestimmt, sondern daſs in jedem gewisse
völlig unräumliche, und bloſs innere Zustände, nämlich
Selbsterhaltungen vorkommen, von welchen selbst die
räumliche Constitution eines Körpers ganz und gar ab-
hängt. Vollends aber diejenigen einfachen Wesen, die
zu Bestandtheilen eines organischen Körpers dienen, tra-
gen in sich ganze Systeme von Selbsterhaltungen, ähn-
lich den Systemen der Vorstellungen in einem gebilde-
ten Geiste. Was für Systeme das seyen, dies richtet
sich nach der Art und dem Grade der Assimilation, die
sie in dem organischen Körper, dessen Bestandtheile sie
ausmachen, schon erlangt haben.

Die organische, oder vegetative Lebenskraft, — wohl
zu unterscheiden von der Seele, ist demnach keine reale
Einheit, sondern ein allgemeiner und noch sehr unbe-
stimmter Begriff, welcher hindeutet auf die gesammte
innere Bildung, das heiſst, auf die gesammten Systeme
von Selbsterhaltungen in allen Bestandtheilen des Leibes.
Sollte man sagen, was die Lebenskraft eigentlich sey?
so müſste man alle diese Elemente des Leibes einzeln
durchgehn, und beschreiben, theils, welche Bildung in
ihnen sey, welcher äuſsere Zustand, welche räumliche
Lage und Bewegung aus ihrer Bildung, und aus derjeni-
gen der zunächst liegenden Elemente zusammengenommen
erfolge.

Die Reizbarkeit ist nur in ihren Aeuſserungen etwas
räumliches. Sie hat ebenfalls ihren Sitz in der innern
Bildung, und kennten wir die letztere, so würden wir

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[455/0490] daſs der äuſsere Zustand, d. i. die räumliche Lage, dem innern Zustande, d. h. den Selbsterhaltungen der Wesen, völlig entspreche. Die Entwickelung dieser Sätze erfor- dert zum Theil unmögliche Begriffe, welche aber im Laufe des Räsonnements eben so ihre bestimmte Stelle und ihren gesetzmäſsigen Gebrauch haben, wie die un- möglichen Gröſsen in manchen mathematischen Beweisen. Unmittelbar folgt aus dem Gesagten, daſs kein ein- ziges Theilchen der Materie darf angesehen werden als bloſs räumlich bestimmt, sondern daſs in jedem gewisse völlig unräumliche, und bloſs innere Zustände, nämlich Selbsterhaltungen vorkommen, von welchen selbst die räumliche Constitution eines Körpers ganz und gar ab- hängt. Vollends aber diejenigen einfachen Wesen, die zu Bestandtheilen eines organischen Körpers dienen, tra- gen in sich ganze Systeme von Selbsterhaltungen, ähn- lich den Systemen der Vorstellungen in einem gebilde- ten Geiste. Was für Systeme das seyen, dies richtet sich nach der Art und dem Grade der Assimilation, die sie in dem organischen Körper, dessen Bestandtheile sie ausmachen, schon erlangt haben. Die organische, oder vegetative Lebenskraft, — wohl zu unterscheiden von der Seele, ist demnach keine reale Einheit, sondern ein allgemeiner und noch sehr unbe- stimmter Begriff, welcher hindeutet auf die gesammte innere Bildung, das heiſst, auf die gesammten Systeme von Selbsterhaltungen in allen Bestandtheilen des Leibes. Sollte man sagen, was die Lebenskraft eigentlich sey? so müſste man alle diese Elemente des Leibes einzeln durchgehn, und beschreiben, theils, welche Bildung in ihnen sey, welcher äuſsere Zustand, welche räumliche Lage und Bewegung aus ihrer Bildung, und aus derjeni- gen der zunächst liegenden Elemente zusammengenommen erfolge. Die Reizbarkeit ist nur in ihren Aeuſserungen etwas räumliches. Sie hat ebenfalls ihren Sitz in der innern Bildung, und kennten wir die letztere, so würden wir

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 455. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/490>, abgerufen am 29.03.2024.