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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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Charaktere eindringt. Ich meine die mechanische, die
chemische, die vitale, und die psychische Erklä-
rungsart. Die Bedeutung dieser Ausdrücke wird bekannt
genug seyn, höchstens mag einigen Lesern die Erinne-
rung willkommen seyn, dass zwischen den beyden letzten
Ausdrücken die nämliche Scheidungslinie läuft, wodurch
das Leben der Pflanzen getrennt wird von demjenigen
Leben der Thiere in ihrem wachenden oder träumenden
Zustande, wodurch sie sich über die blosse Vegetation
erheben.

Wenn ich nun behaupte, dass die mechanische Er-
klärungsart für sich allein beynahe ganz unbrauchbar,
aber in Verbindung mit den übrigen unentbehrlich ist,
so werden die Meisten mir beistimmen. Allein man wird
anstössig finden, was ich sogleich hinzusetze, dass nämlich
die chemische Erklärungsweise unter allen am wenigsten
brauchbar, ja beynahe gänzlich untauglich ist. Dies muss
ich genauer erläutern.

Jede chemische Action besteht (nach dem, was die
Abhandlung über die Attraction der Elemente hierüber
enthält) in derjenigen Störung, welche in zweyen hetero-
genen Wesen zwey heterogene, aber zusammengehörige,
Selbsterhaltungen nöthig macht *). Und zwar sind diese
Selbsterhaltungen allein das wirkliche Ereigniss, denn die
Störung ist eigentlich nur das, was geschehn würde, wenn
die Selbsterhaltungen ausblieben, die aber ganz unfehl-
bar erfolgen. -- Angenommen nun, dass die Wesen,
von denen die Rede ist, sich in keinen andern und näher
bestimmten Verhältnissen befinden: so ist ihre gegensei-
tige Action gar keine andre als die beschriebene; sie ist
allemal chemisch, und es giebt keine andre als chemi-
sche Action, die unmittelbar aus dem Zusammentref-
fen zweyer Wesen erfolgen könnte. -- Hingegen die

*) Ich kann mich nicht genug wundern über die dürftige Einsei-
tigkeit, womit man neuerlich in der Elektricität das Geheimniss der
Chemie zu finden, -- und x durch y zu erklären meint. Doch unsre
Chemie ist schon zu reich, um solche Thorheit lange zu ertragen.

Charaktere eindringt. Ich meine die mechanische, die
chemische, die vitale, und die psychische Erklä-
rungsart. Die Bedeutung dieser Ausdrücke wird bekannt
genug seyn, höchstens mag einigen Lesern die Erinne-
rung willkommen seyn, daſs zwischen den beyden letzten
Ausdrücken die nämliche Scheidungslinie läuft, wodurch
das Leben der Pflanzen getrennt wird von demjenigen
Leben der Thiere in ihrem wachenden oder träumenden
Zustande, wodurch sie sich über die bloſse Vegetation
erheben.

Wenn ich nun behaupte, daſs die mechanische Er-
klärungsart für sich allein beynahe ganz unbrauchbar,
aber in Verbindung mit den übrigen unentbehrlich ist,
so werden die Meisten mir beistimmen. Allein man wird
anstöſsig finden, was ich sogleich hinzusetze, daſs nämlich
die chemische Erklärungsweise unter allen am wenigsten
brauchbar, ja beynahe gänzlich untauglich ist. Dies muſs
ich genauer erläutern.

Jede chemische Action besteht (nach dem, was die
Abhandlung über die Attraction der Elemente hierüber
enthält) in derjenigen Störung, welche in zweyen hetero-
genen Wesen zwey heterogene, aber zusammengehörige,
Selbsterhaltungen nöthig macht *). Und zwar sind diese
Selbsterhaltungen allein das wirkliche Ereigniſs, denn die
Störung ist eigentlich nur das, was geschehn würde, wenn
die Selbsterhaltungen ausblieben, die aber ganz unfehl-
bar erfolgen. — Angenommen nun, daſs die Wesen,
von denen die Rede ist, sich in keinen andern und näher
bestimmten Verhältnissen befinden: so ist ihre gegensei-
tige Action gar keine andre als die beschriebene; sie ist
allemal chemisch, und es giebt keine andre als chemi-
sche Action, die unmittelbar aus dem Zusammentref-
fen zweyer Wesen erfolgen könnte. — Hingegen die

*) Ich kann mich nicht genug wundern über die dürftige Einsei-
tigkeit, womit man neuerlich in der Elektricität das Geheimniſs der
Chemie zu finden, — und x durch y zu erklären meint. Doch unsre
Chemie ist schon zu reich, um solche Thorheit lange zu ertragen.
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[468/0503] Charaktere eindringt. Ich meine die mechanische, die chemische, die vitale, und die psychische Erklä- rungsart. Die Bedeutung dieser Ausdrücke wird bekannt genug seyn, höchstens mag einigen Lesern die Erinne- rung willkommen seyn, daſs zwischen den beyden letzten Ausdrücken die nämliche Scheidungslinie läuft, wodurch das Leben der Pflanzen getrennt wird von demjenigen Leben der Thiere in ihrem wachenden oder träumenden Zustande, wodurch sie sich über die bloſse Vegetation erheben. Wenn ich nun behaupte, daſs die mechanische Er- klärungsart für sich allein beynahe ganz unbrauchbar, aber in Verbindung mit den übrigen unentbehrlich ist, so werden die Meisten mir beistimmen. Allein man wird anstöſsig finden, was ich sogleich hinzusetze, daſs nämlich die chemische Erklärungsweise unter allen am wenigsten brauchbar, ja beynahe gänzlich untauglich ist. Dies muſs ich genauer erläutern. Jede chemische Action besteht (nach dem, was die Abhandlung über die Attraction der Elemente hierüber enthält) in derjenigen Störung, welche in zweyen hetero- genen Wesen zwey heterogene, aber zusammengehörige, Selbsterhaltungen nöthig macht *). Und zwar sind diese Selbsterhaltungen allein das wirkliche Ereigniſs, denn die Störung ist eigentlich nur das, was geschehn würde, wenn die Selbsterhaltungen ausblieben, die aber ganz unfehl- bar erfolgen. — Angenommen nun, daſs die Wesen, von denen die Rede ist, sich in keinen andern und näher bestimmten Verhältnissen befinden: so ist ihre gegensei- tige Action gar keine andre als die beschriebene; sie ist allemal chemisch, und es giebt keine andre als chemi- sche Action, die unmittelbar aus dem Zusammentref- fen zweyer Wesen erfolgen könnte. — Hingegen die *) Ich kann mich nicht genug wundern über die dürftige Einsei- tigkeit, womit man neuerlich in der Elektricität das Geheimniſs der Chemie zu finden, — und x durch y zu erklären meint. Doch unsre Chemie ist schon zu reich, um solche Thorheit lange zu ertragen.

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 468. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/503>, abgerufen am 19.04.2024.