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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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auch lediglich vermöge eines psychologischen Mechanis-
mus, beym wissenschaftlichen Denken wenigstens sich
überall darbietet, und es nach ihrer Art verarbeitet. Der
Idealist aber ist im Irrthum, indem er seine Leichtigkeit,
alle seine Gedanken Sich zuzueignen, für ein wohlthäti-
ges Durchbrechen der reinen Ichheit durch das Indivi-
duelle hält. Was er besitzt, was jenen Andern fehlt,
was im Traume ausbleibt, weil Hemmungen statt der
Veranlassungen da sind, das Alles steht unter den glei-
chen psychologischen Gesetzen.

§. 163.

Es ist für die ganze Psychologie im hohen Grade
nützlich, wenn mit den auffallenden Anomalien in sol-
chen Zuständen, worin offenbar der Leib vorherrscht, die
minderen Fehler verglichen werden, die der gesunde,
wachende Mensch vielfältig begeht. Oft genug scheint
der Wachende zu träumen und wir sehen Tollheit ohne
Wahnsinn auch ausser dem Irrenhause. Was wir Ver-
stand nennen, nämlich in Beziehung auf das praktische
Leben, das ist grossentheils ein Werk der Gesetze und
Sitten, der Erziehung und Gewöhnung und Uebung, ja
selbst der blinden Befolgung irgend einer Auctorität.
Genau, jedoch ohne Uebertreibung, zu erkennen, wie
und in wiefern dergleichen Bande für die Menschheit im
Grossen nothwendig sind, ist in praktischer Hinsicht ein
höchst wichtiger Punct für die Philosophie; die unter an-
dern weit weniger mit der Geschichte zerfallen seyn würde,
hätten ihr diese Einsichten nicht zu sehr, und obendrein
zur Unzeit, gemangelt!

Man wolle mir daher verzeihen, wenn ich hier zwi-
schen Traum und Wahnsinn einiges in die Mitte stelle,
das zwar zu einer so schlechten Gesellschaft auf keine
Weise kann verurtheilt werden, aber dennoch dem For-
scher gegenwärtig seyn muss, damit er seine Untersu-
chungen allgemein genug fasse, und in den heterogen-
sten Zuständen dieselbe Seele und dieselben Gesetze des
Vorstellens wieder erkenne.

auch lediglich vermöge eines psychologischen Mechanis-
mus, beym wissenschaftlichen Denken wenigstens sich
überall darbietet, und es nach ihrer Art verarbeitet. Der
Idealist aber ist im Irrthum, indem er seine Leichtigkeit,
alle seine Gedanken Sich zuzueignen, für ein wohlthäti-
ges Durchbrechen der reinen Ichheit durch das Indivi-
duelle hält. Was er besitzt, was jenen Andern fehlt,
was im Traume ausbleibt, weil Hemmungen statt der
Veranlassungen da sind, das Alles steht unter den glei-
chen psychologischen Gesetzen.

§. 163.

Es ist für die ganze Psychologie im hohen Grade
nützlich, wenn mit den auffallenden Anomalien in sol-
chen Zuständen, worin offenbar der Leib vorherrscht, die
minderen Fehler verglichen werden, die der gesunde,
wachende Mensch vielfältig begeht. Oft genug scheint
der Wachende zu träumen und wir sehen Tollheit ohne
Wahnsinn auch auſser dem Irrenhause. Was wir Ver-
stand nennen, nämlich in Beziehung auf das praktische
Leben, das ist groſsentheils ein Werk der Gesetze und
Sitten, der Erziehung und Gewöhnung und Uebung, ja
selbst der blinden Befolgung irgend einer Auctorität.
Genau, jedoch ohne Uebertreibung, zu erkennen, wie
und in wiefern dergleichen Bande für die Menschheit im
Groſsen nothwendig sind, ist in praktischer Hinsicht ein
höchst wichtiger Punct für die Philosophie; die unter an-
dern weit weniger mit der Geschichte zerfallen seyn würde,
hätten ihr diese Einsichten nicht zu sehr, und obendrein
zur Unzeit, gemangelt!

Man wolle mir daher verzeihen, wenn ich hier zwi-
schen Traum und Wahnsinn einiges in die Mitte stelle,
das zwar zu einer so schlechten Gesellschaft auf keine
Weise kann verurtheilt werden, aber dennoch dem For-
scher gegenwärtig seyn muſs, damit er seine Untersu-
chungen allgemein genug fasse, und in den heterogen-
sten Zuständen dieselbe Seele und dieselben Gesetze des
Vorstellens wieder erkenne.

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[502/0537] auch lediglich vermöge eines psychologischen Mechanis- mus, beym wissenschaftlichen Denken wenigstens sich überall darbietet, und es nach ihrer Art verarbeitet. Der Idealist aber ist im Irrthum, indem er seine Leichtigkeit, alle seine Gedanken Sich zuzueignen, für ein wohlthäti- ges Durchbrechen der reinen Ichheit durch das Indivi- duelle hält. Was er besitzt, was jenen Andern fehlt, was im Traume ausbleibt, weil Hemmungen statt der Veranlassungen da sind, das Alles steht unter den glei- chen psychologischen Gesetzen. §. 163. Es ist für die ganze Psychologie im hohen Grade nützlich, wenn mit den auffallenden Anomalien in sol- chen Zuständen, worin offenbar der Leib vorherrscht, die minderen Fehler verglichen werden, die der gesunde, wachende Mensch vielfältig begeht. Oft genug scheint der Wachende zu träumen und wir sehen Tollheit ohne Wahnsinn auch auſser dem Irrenhause. Was wir Ver- stand nennen, nämlich in Beziehung auf das praktische Leben, das ist groſsentheils ein Werk der Gesetze und Sitten, der Erziehung und Gewöhnung und Uebung, ja selbst der blinden Befolgung irgend einer Auctorität. Genau, jedoch ohne Uebertreibung, zu erkennen, wie und in wiefern dergleichen Bande für die Menschheit im Groſsen nothwendig sind, ist in praktischer Hinsicht ein höchst wichtiger Punct für die Philosophie; die unter an- dern weit weniger mit der Geschichte zerfallen seyn würde, hätten ihr diese Einsichten nicht zu sehr, und obendrein zur Unzeit, gemangelt! Man wolle mir daher verzeihen, wenn ich hier zwi- schen Traum und Wahnsinn einiges in die Mitte stelle, das zwar zu einer so schlechten Gesellschaft auf keine Weise kann verurtheilt werden, aber dennoch dem For- scher gegenwärtig seyn muſs, damit er seine Untersu- chungen allgemein genug fasse, und in den heterogen- sten Zuständen dieselbe Seele und dieselben Gesetze des Vorstellens wieder erkenne.

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 502. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/537>, abgerufen am 19.04.2024.