Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

Bild:
<< vorherige Seite

schiede sind. Beym vollkommenen Kretin steht die Seele
noch auf dem nämlichen Puncte, auf welchem sie etwan
bey der Geburt seyn mochte. Gar nichts von Complica-
tionen und Verschmelzungen der Vorstellungen ist zu
Stande gebracht, nirgends ist es bey der Hemmung der
letztern auf sie selbst angekommen; dagegen hat auch
der Organismus nicht, wie in der Narrheit und Tobsucht,
Vorstellungen und Gefühle herbeygeführt; sondern die
reine Negation des Vorstellens hat Alles, beynahe bis
auf die einfachsten, unmittelbaren Sensationen des Au-
genblicks, erdrückt und getödtet. Der Kretin kennt oft
nicht einmal die Theile seines Leibes; er mishandelt sich
selbst, und leidet den grausamsten Drang körperlicher
Bedürfnisse, ohne sie zu befriedigen.

Es ist ein sehr merkwürdiger, und Vieles aufklären-
der Umstand, dass nur der Blödsinn allein unter den
Geisteszerrüttungen als angeboren vorkommt. Die an-
dern Arten sind mit der Kindheit, wie es scheint, un-
verträglich. Wenigstens fand Pinel in Bicetre, nach
einem zehnjährigen Register, keinen Verrückten unter
funfzehn Jahren. Hieraus sieht man, dass die andern
Arten der Verrückung Verderbnisse dessen sind was vor-
handen war; der Blödsinn hingegen als ein blosser Man-
gel von der ersten Kindheit an existiren kann. Der Blöd-
sinnige ist ein Zwerg am Geiste. Die geringeren Grade
des Blödsinns können kaum anders als angeboren vor-
kommen. Denn wo derselbe im Laufe des Lebens ent-
steht, sey es unmittelbur oder als Verschlimmerung des
fixen Wahnsinns und der Tobsucht, da muss eine sehr
heftige Gewalt so zerstörend auf die früher gewonnene
Bildung gewirkt haben, dass schwerlich irgend etwas an-
deres als unbrauchbare und im Wege liegende Trümmer
davon übrig bleiben können. Hingegen der Blödsinn
von Kindheit auf kann so gelinde seyn, dass er bloss eine
auffallend beschränkte, dennoch gewissermassen in sich
abgerundete Bildung darstellt. Ich habe dieses in frü-
hern Jahren sehr genau an einem Verwandten bemerken

schiede sind. Beym vollkommenen Kretin steht die Seele
noch auf dem nämlichen Puncte, auf welchem sie etwan
bey der Geburt seyn mochte. Gar nichts von Complica-
tionen und Verschmelzungen der Vorstellungen ist zu
Stande gebracht, nirgends ist es bey der Hemmung der
letztern auf sie selbst angekommen; dagegen hat auch
der Organismus nicht, wie in der Narrheit und Tobsucht,
Vorstellungen und Gefühle herbeygeführt; sondern die
reine Negation des Vorstellens hat Alles, beynahe bis
auf die einfachsten, unmittelbaren Sensationen des Au-
genblicks, erdrückt und getödtet. Der Kretin kennt oft
nicht einmal die Theile seines Leibes; er mishandelt sich
selbst, und leidet den grausamsten Drang körperlicher
Bedürfnisse, ohne sie zu befriedigen.

Es ist ein sehr merkwürdiger, und Vieles aufklären-
der Umstand, daſs nur der Blödsinn allein unter den
Geisteszerrüttungen als angeboren vorkommt. Die an-
dern Arten sind mit der Kindheit, wie es scheint, un-
verträglich. Wenigstens fand Pinel in Bicêtre, nach
einem zehnjährigen Register, keinen Verrückten unter
funfzehn Jahren. Hieraus sieht man, daſs die andern
Arten der Verrückung Verderbnisse dessen sind was vor-
handen war; der Blödsinn hingegen als ein bloſser Man-
gel von der ersten Kindheit an existiren kann. Der Blöd-
sinnige ist ein Zwerg am Geiste. Die geringeren Grade
des Blödsinns können kaum anders als angeboren vor-
kommen. Denn wo derselbe im Laufe des Lebens ent-
steht, sey es unmittelbur oder als Verschlimmerung des
fixen Wahnsinns und der Tobsucht, da muſs eine sehr
heftige Gewalt so zerstörend auf die früher gewonnene
Bildung gewirkt haben, daſs schwerlich irgend etwas an-
deres als unbrauchbare und im Wege liegende Trümmer
davon übrig bleiben können. Hingegen der Blödsinn
von Kindheit auf kann so gelinde seyn, daſs er bloſs eine
auffallend beschränkte, dennoch gewissermaſsen in sich
abgerundete Bildung darstellt. Ich habe dieses in frü-
hern Jahren sehr genau an einem Verwandten bemerken

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0555" n="520"/>
schiede sind. Beym vollkommenen Kretin steht die Seele<lb/>
noch auf dem nämlichen Puncte, auf welchem sie etwan<lb/>
bey der Geburt seyn mochte. Gar nichts von Complica-<lb/>
tionen und Verschmelzungen der Vorstellungen ist zu<lb/>
Stande gebracht, nirgends ist es bey der Hemmung der<lb/>
letztern auf sie selbst angekommen; dagegen hat auch<lb/>
der Organismus nicht, wie in der Narrheit und Tobsucht,<lb/>
Vorstellungen und Gefühle herbeygeführt; sondern die<lb/>
reine Negation des Vorstellens hat Alles, beynahe bis<lb/>
auf die einfachsten, unmittelbaren Sensationen des Au-<lb/>
genblicks, erdrückt und getödtet. Der Kretin kennt oft<lb/>
nicht einmal die Theile seines Leibes; er mishandelt sich<lb/>
selbst, und leidet den grausamsten Drang körperlicher<lb/>
Bedürfnisse, ohne sie zu befriedigen.</p><lb/>
              <p>Es ist ein sehr merkwürdiger, und Vieles aufklären-<lb/>
der Umstand, da&#x017F;s nur der Blödsinn allein unter den<lb/>
Geisteszerrüttungen als angeboren vorkommt. Die an-<lb/>
dern Arten sind mit der Kindheit, wie es scheint, un-<lb/>
verträglich. Wenigstens fand <hi rendition="#g">Pinel</hi> in <hi rendition="#g">Bicêtre</hi>, nach<lb/>
einem zehnjährigen Register, keinen Verrückten unter<lb/>
funfzehn Jahren. Hieraus sieht man, da&#x017F;s die andern<lb/>
Arten der Verrückung Verderbnisse dessen sind was vor-<lb/>
handen war; der Blödsinn hingegen als ein blo&#x017F;ser Man-<lb/>
gel von der ersten Kindheit an existiren kann. Der Blöd-<lb/>
sinnige ist ein Zwerg am Geiste. Die geringeren Grade<lb/>
des Blödsinns können kaum anders als angeboren vor-<lb/>
kommen. Denn wo derselbe im Laufe des Lebens ent-<lb/>
steht, sey es unmittelbur oder als Verschlimmerung des<lb/>
fixen Wahnsinns und der Tobsucht, da mu&#x017F;s eine sehr<lb/>
heftige Gewalt so zerstörend auf die früher gewonnene<lb/>
Bildung gewirkt haben, da&#x017F;s schwerlich irgend etwas an-<lb/>
deres als unbrauchbare und im Wege liegende Trümmer<lb/>
davon übrig bleiben können. Hingegen der Blödsinn<lb/>
von Kindheit auf kann so gelinde seyn, da&#x017F;s er blo&#x017F;s eine<lb/>
auffallend beschränkte, dennoch gewisserma&#x017F;sen in sich<lb/>
abgerundete Bildung darstellt. Ich habe dieses in frü-<lb/>
hern Jahren sehr genau an einem Verwandten bemerken<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[520/0555] schiede sind. Beym vollkommenen Kretin steht die Seele noch auf dem nämlichen Puncte, auf welchem sie etwan bey der Geburt seyn mochte. Gar nichts von Complica- tionen und Verschmelzungen der Vorstellungen ist zu Stande gebracht, nirgends ist es bey der Hemmung der letztern auf sie selbst angekommen; dagegen hat auch der Organismus nicht, wie in der Narrheit und Tobsucht, Vorstellungen und Gefühle herbeygeführt; sondern die reine Negation des Vorstellens hat Alles, beynahe bis auf die einfachsten, unmittelbaren Sensationen des Au- genblicks, erdrückt und getödtet. Der Kretin kennt oft nicht einmal die Theile seines Leibes; er mishandelt sich selbst, und leidet den grausamsten Drang körperlicher Bedürfnisse, ohne sie zu befriedigen. Es ist ein sehr merkwürdiger, und Vieles aufklären- der Umstand, daſs nur der Blödsinn allein unter den Geisteszerrüttungen als angeboren vorkommt. Die an- dern Arten sind mit der Kindheit, wie es scheint, un- verträglich. Wenigstens fand Pinel in Bicêtre, nach einem zehnjährigen Register, keinen Verrückten unter funfzehn Jahren. Hieraus sieht man, daſs die andern Arten der Verrückung Verderbnisse dessen sind was vor- handen war; der Blödsinn hingegen als ein bloſser Man- gel von der ersten Kindheit an existiren kann. Der Blöd- sinnige ist ein Zwerg am Geiste. Die geringeren Grade des Blödsinns können kaum anders als angeboren vor- kommen. Denn wo derselbe im Laufe des Lebens ent- steht, sey es unmittelbur oder als Verschlimmerung des fixen Wahnsinns und der Tobsucht, da muſs eine sehr heftige Gewalt so zerstörend auf die früher gewonnene Bildung gewirkt haben, daſs schwerlich irgend etwas an- deres als unbrauchbare und im Wege liegende Trümmer davon übrig bleiben können. Hingegen der Blödsinn von Kindheit auf kann so gelinde seyn, daſs er bloſs eine auffallend beschränkte, dennoch gewissermaſsen in sich abgerundete Bildung darstellt. Ich habe dieses in frü- hern Jahren sehr genau an einem Verwandten bemerken

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/555
Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 520. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/555>, abgerufen am 24.04.2024.