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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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nun geben die Hauptumrisse eines Bildes vom geistigen
Leben überhaupt; ohne Unterschied zwischen dem Men-
schen und den höheren Thieren. Und ein solches Bild
muss der bestimmteren Schilderung des menschlichen
Geistes nothwendig vorausgehn, wenn man aus der Ver-
wunderung über den Menschen, in welchem soviel Un-
gleichartiges beysammen zu wohnen scheint, jemals her-
auskommen will. Es ist eine alte Bemerkung, dass sich
das Thier einer weit vollkommenern Einheit mit sich
selbst zu erfreuen scheint, als der Mensch; auch sind
die Thiere von einer Art einander sehr ähnlich, während
beym Menschen beynahe jedes Individuum seine eignen
Kennzeichen hat, und die Menschheit, in Hinsicht des
Geistigen, nur ein Abstractum ist, das man aus den ver-
schieden gearteten Exemplaren kaum herauszufinden ver-
mag. Daher scheint der Mensch das Product einer
neuen Gährung zu seyn, welcher der psychologische Me-
chanismus sich nicht nothwendig zu unterwerfen braucht;
und deren wichtigste Ursachen wohl in den geselligen
Reibungen liegen dürften. Könnte man nun die Ruhe-
puncte finden, bey welchen, ohne Aufregung durch das
gesellschaftliche Leben, der psychologische Mechanismus
stehen bleiben würde; so hätte man den Begriff einer
sich selbst genügenden geistigen Existenz, ohne thierische
Instincte, welche aber als das Urbild, als das Beste an-
gesehen werden möchte, was dem Thiere erreichbar wäre,
ohne in die Unruhe des Menschen hineinzugerathen. *)
Und eine solche Existenz müsste sich aus den Principien
der Statik und Mechanik ableiten lassen, für welche dann
die hinzutretenden Bedingungen des Lebens, wie sie bey
den einzelnen Thiergeschlechtern sich finden, nur Be-
schränkungen wären. Der erste Abschnitt dieses zweyten

*) Für diesen Begriff giebt es keine Erfahrung. Die edlern
Thiere, die wir kennen, haben eine so frühzeitige Pubertät, und die
Entwickelung derselben ist bey ihnen so gewaltsam, dass eine rein
psychologische Vergleichung mit dem Menschen unmöglich ist.
D 2

nun geben die Hauptumrisse eines Bildes vom geistigen
Leben überhaupt; ohne Unterschied zwischen dem Men-
schen und den höheren Thieren. Und ein solches Bild
muſs der bestimmteren Schilderung des menschlichen
Geistes nothwendig vorausgehn, wenn man aus der Ver-
wunderung über den Menschen, in welchem soviel Un-
gleichartiges beysammen zu wohnen scheint, jemals her-
auskommen will. Es ist eine alte Bemerkung, daſs sich
das Thier einer weit vollkommenern Einheit mit sich
selbst zu erfreuen scheint, als der Mensch; auch sind
die Thiere von einer Art einander sehr ähnlich, während
beym Menschen beynahe jedes Individuum seine eignen
Kennzeichen hat, und die Menschheit, in Hinsicht des
Geistigen, nur ein Abstractum ist, das man aus den ver-
schieden gearteten Exemplaren kaum herauszufinden ver-
mag. Daher scheint der Mensch das Product einer
neuen Gährung zu seyn, welcher der psychologische Me-
chanismus sich nicht nothwendig zu unterwerfen braucht;
und deren wichtigste Ursachen wohl in den geselligen
Reibungen liegen dürften. Könnte man nun die Ruhe-
puncte finden, bey welchen, ohne Aufregung durch das
gesellschaftliche Leben, der psychologische Mechanismus
stehen bleiben würde; so hätte man den Begriff einer
sich selbst genügenden geistigen Existenz, ohne thierische
Instincte, welche aber als das Urbild, als das Beste an-
gesehen werden möchte, was dem Thiere erreichbar wäre,
ohne in die Unruhe des Menschen hineinzugerathen. *)
Und eine solche Existenz müſste sich aus den Principien
der Statik und Mechanik ableiten lassen, für welche dann
die hinzutretenden Bedingungen des Lebens, wie sie bey
den einzelnen Thiergeschlechtern sich finden, nur Be-
schränkungen wären. Der erste Abschnitt dieses zweyten

*) Für diesen Begriff giebt es keine Erfahrung. Die edlern
Thiere, die wir kennen, haben eine so frühzeitige Pubertät, und die
Entwickelung derselben ist bey ihnen so gewaltsam, daſs eine rein
psychologische Vergleichung mit dem Menschen unmöglich ist.
D 2
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[51/0086] nun geben die Hauptumrisse eines Bildes vom geistigen Leben überhaupt; ohne Unterschied zwischen dem Men- schen und den höheren Thieren. Und ein solches Bild muſs der bestimmteren Schilderung des menschlichen Geistes nothwendig vorausgehn, wenn man aus der Ver- wunderung über den Menschen, in welchem soviel Un- gleichartiges beysammen zu wohnen scheint, jemals her- auskommen will. Es ist eine alte Bemerkung, daſs sich das Thier einer weit vollkommenern Einheit mit sich selbst zu erfreuen scheint, als der Mensch; auch sind die Thiere von einer Art einander sehr ähnlich, während beym Menschen beynahe jedes Individuum seine eignen Kennzeichen hat, und die Menschheit, in Hinsicht des Geistigen, nur ein Abstractum ist, das man aus den ver- schieden gearteten Exemplaren kaum herauszufinden ver- mag. Daher scheint der Mensch das Product einer neuen Gährung zu seyn, welcher der psychologische Me- chanismus sich nicht nothwendig zu unterwerfen braucht; und deren wichtigste Ursachen wohl in den geselligen Reibungen liegen dürften. Könnte man nun die Ruhe- puncte finden, bey welchen, ohne Aufregung durch das gesellschaftliche Leben, der psychologische Mechanismus stehen bleiben würde; so hätte man den Begriff einer sich selbst genügenden geistigen Existenz, ohne thierische Instincte, welche aber als das Urbild, als das Beste an- gesehen werden möchte, was dem Thiere erreichbar wäre, ohne in die Unruhe des Menschen hineinzugerathen. *) Und eine solche Existenz müſste sich aus den Principien der Statik und Mechanik ableiten lassen, für welche dann die hinzutretenden Bedingungen des Lebens, wie sie bey den einzelnen Thiergeschlechtern sich finden, nur Be- schränkungen wären. Der erste Abschnitt dieses zweyten *) Für diesen Begriff giebt es keine Erfahrung. Die edlern Thiere, die wir kennen, haben eine so frühzeitige Pubertät, und die Entwickelung derselben ist bey ihnen so gewaltsam, daſs eine rein psychologische Vergleichung mit dem Menschen unmöglich ist. D 2

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/86>, abgerufen am 29.03.2024.