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Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834.

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sondern sie hat auch ihre Geschichte; und diese Geschichte
findet der Einzelne bis auf einen gewissen Punkt abgelau-
fen. Damit ist nun ein Grad der Cultur, ein nationales
Gefühl und Gewissen verbunden, wovon der Einzelne in
allen Punkten seiner Lebensbahn mächtig gelenkt, gehoben
und niedergeschlagen wird.

139. Bey jeder Nation, die sich aus der Rohheit em-
porgewunden hat, giebt es Verschiedenheit der Stände
(auf die Weiber nur verpflanzt, bey den Männern ursprüng-
lich). Diese Verschiedenheit ist theils ein Werk der Gewalt
und der Noth, theils eine Folge der natürlichen Anlagen,
theils entspringt sie aus dem Bedürfnis die Arbeit zu thei-
len. Nur in so fern kommt dem Einzelnen ein Stand zu,
wiefern ihm eingeräumt wird, er habe die Zweckmäßigkeit
seines Thuns selbst zu beurtheilen. (Nicht in wiesern er
für eigne Zwecke thätig ist, denn in dem Begriffe der Thei-
lung der Arbeit liegt es schon, daß es für Alle, oder doch
für Viele, wirkt.) Jndem nun der Mensch sein ganzes Thun
in Eine Zweckmäßigkeit zu concentriren sucht, entsteht ein
äußeres Gepräge und eine Ehre für jeden Stand, wobey
nicht nur, wie zu geschehen pflegt, die Mittel selbst den
Zweck um etwas verrücken und zum Theil vergessen machen,
sondern auch die Gedanken und die Gesinnungen des Men-
schen richten sich nach seinem Thun; sie schwinden zusam-
men auf den Kreis ihrer Brauchbarkeit, und die Bestrebun-
gen, welche übrig bleiben, scheiden sich in zwey Theile, in
einen, der dem Stande ganz angehört, und einen andern,
der trotz demselben Befriedigung sucht. Falls dieser Wi-
derstreit bedeutend wird, so. taugen der Mensch und
sein Stand nicht, für einander und sie schaden sich gegen-
seitig. --

Je weniger nun Jemand die Zweckmäßigkeit seines
Thuns selbst zu beurtheilen hat, das heißt, je mehr er der

sondern sie hat auch ihre Geschichte; und diese Geschichte
findet der Einzelne bis auf einen gewissen Punkt abgelau-
fen. Damit ist nun ein Grad der Cultur, ein nationales
Gefühl und Gewissen verbunden, wovon der Einzelne in
allen Punkten seiner Lebensbahn mächtig gelenkt, gehoben
und niedergeschlagen wird.

139. Bey jeder Nation, die sich aus der Rohheit em-
porgewunden hat, giebt es Verschiedenheit der Stände
(auf die Weiber nur verpflanzt, bey den Männern ursprüng-
lich). Diese Verschiedenheit ist theils ein Werk der Gewalt
und der Noth, theils eine Folge der natürlichen Anlagen,
theils entspringt sie aus dem Bedürfnis die Arbeit zu thei-
len. Nur in so fern kommt dem Einzelnen ein Stand zu,
wiefern ihm eingeräumt wird, er habe die Zweckmäßigkeit
seines Thuns selbst zu beurtheilen. (Nicht in wiesern er
für eigne Zwecke thätig ist, denn in dem Begriffe der Thei-
lung der Arbeit liegt es schon, daß es für Alle, oder doch
für Viele, wirkt.) Jndem nun der Mensch sein ganzes Thun
in Eine Zweckmäßigkeit zu concentriren sucht, entsteht ein
äußeres Gepräge und eine Ehre für jeden Stand, wobey
nicht nur, wie zu geschehen pflegt, die Mittel selbst den
Zweck um etwas verrücken und zum Theil vergessen machen,
sondern auch die Gedanken und die Gesinnungen des Men-
schen richten sich nach seinem Thun; sie schwinden zusam-
men auf den Kreis ihrer Brauchbarkeit, und die Bestrebun-
gen, welche übrig bleiben, scheiden sich in zwey Theile, in
einen, der dem Stande ganz angehört, und einen andern,
der trotz demselben Befriedigung sucht. Falls dieser Wi-
derstreit bedeutend wird, so. taugen der Mensch und
sein Stand nicht, für einander und sie schaden sich gegen-
seitig. —

Je weniger nun Jemand die Zweckmäßigkeit seines
Thuns selbst zu beurtheilen hat, das heißt, je mehr er der

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[108/0116] sondern sie hat auch ihre Geschichte; und diese Geschichte findet der Einzelne bis auf einen gewissen Punkt abgelau- fen. Damit ist nun ein Grad der Cultur, ein nationales Gefühl und Gewissen verbunden, wovon der Einzelne in allen Punkten seiner Lebensbahn mächtig gelenkt, gehoben und niedergeschlagen wird. 139. Bey jeder Nation, die sich aus der Rohheit em- porgewunden hat, giebt es Verschiedenheit der Stände (auf die Weiber nur verpflanzt, bey den Männern ursprüng- lich). Diese Verschiedenheit ist theils ein Werk der Gewalt und der Noth, theils eine Folge der natürlichen Anlagen, theils entspringt sie aus dem Bedürfnis die Arbeit zu thei- len. Nur in so fern kommt dem Einzelnen ein Stand zu, wiefern ihm eingeräumt wird, er habe die Zweckmäßigkeit seines Thuns selbst zu beurtheilen. (Nicht in wiesern er für eigne Zwecke thätig ist, denn in dem Begriffe der Thei- lung der Arbeit liegt es schon, daß es für Alle, oder doch für Viele, wirkt.) Jndem nun der Mensch sein ganzes Thun in Eine Zweckmäßigkeit zu concentriren sucht, entsteht ein äußeres Gepräge und eine Ehre für jeden Stand, wobey nicht nur, wie zu geschehen pflegt, die Mittel selbst den Zweck um etwas verrücken und zum Theil vergessen machen, sondern auch die Gedanken und die Gesinnungen des Men- schen richten sich nach seinem Thun; sie schwinden zusam- men auf den Kreis ihrer Brauchbarkeit, und die Bestrebun- gen, welche übrig bleiben, scheiden sich in zwey Theile, in einen, der dem Stande ganz angehört, und einen andern, der trotz demselben Befriedigung sucht. Falls dieser Wi- derstreit bedeutend wird, so. taugen der Mensch und sein Stand nicht, für einander und sie schaden sich gegen- seitig. — Je weniger nun Jemand die Zweckmäßigkeit seines Thuns selbst zu beurtheilen hat, das heißt, je mehr er der

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie_1834/116>, abgerufen am 25.04.2024.