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Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834.

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auch für physiologische, aber nicht psychologische, Lehren
giebt es nothwendige Fictionen im Wege eines gesetzmäßi-
gen Denkens, wo das Einfache betrachtet wird, als ließen
sich in ihm Theile unterscheiden. Dergleichen Fictionen müs-
sen auch auf die Seele, in Hinsicht ihrer Verbindung mit
dem Leibe, bezogen, werden, ohne daß darum der Seele
selbst irgend eine wahrhafte räumliche Beschaffenheit zuge-
schrieben würde. (Einigermaaßen ähnlich sind die Fictionen
der Geometer, wenn sie das Krumme als aus geraden Theil-
chen bestehend betrachten.)

151. Die Seele ist ferner nicht irgendwann. Den-
noch muß sie in dem Denken, worin sie mit andern We-
sen zusammengefaßt wird, in die Zeit, und zwar in die
ganze Ewigkeit gesetzt werden, ohne doch daß diese Ewig-
keit, und überhaupt die zeitliche Dauer, ein reales Prädi-
cat der Seele abgäbe (Lehrbuch zur Einleit. in die Philo-
sophie §. 115).

152. Die Seele hat gar keine Anlagen und
Vermögen
, weder etwas zu empfangen, noch zu pro-
duciren
.

Sie ist demnach keine tabula rasa in dem Sinne,
als ob darauf fremde Eindrücke gemacht werden könnten;
auch keine, in ursprünglicher Selbstthätigkeit begriffene, Sub-
stanz in Leibnitzens Sinne. Sie hat ursprünglich weder
Vorstellungen, noch Gefühle, noch Begierden; sie weiß nichts
von sich selbst und nichts von andern Dingen; es liegen
auch in ihr keine Formen des Anschauens und Denkens,
keine Gesetze des Wollens und Handelns; auch keinerley,
wie immer entfernte, Vorbereitungen zu dem allen.

153. Das einfache Was der Seele ist völlig unbe-
kannt, und bleibt es auf immer; es ist kein Gegenstand der
speculativen so wenig, als der empirischen Psychologie.

154. Zwischen mehrern, unter sich ungleichartigen, ein-

auch für physiologische, aber nicht psychologische, Lehren
giebt es nothwendige Fictionen im Wege eines gesetzmäßi-
gen Denkens, wo das Einfache betrachtet wird, als ließen
sich in ihm Theile unterscheiden. Dergleichen Fictionen müs-
sen auch auf die Seele, in Hinsicht ihrer Verbindung mit
dem Leibe, bezogen, werden, ohne daß darum der Seele
selbst irgend eine wahrhafte räumliche Beschaffenheit zuge-
schrieben würde. (Einigermaaßen ähnlich sind die Fictionen
der Geometer, wenn sie das Krumme als aus geraden Theil-
chen bestehend betrachten.)

151. Die Seele ist ferner nicht irgendwann. Den-
noch muß sie in dem Denken, worin sie mit andern We-
sen zusammengefaßt wird, in die Zeit, und zwar in die
ganze Ewigkeit gesetzt werden, ohne doch daß diese Ewig-
keit, und überhaupt die zeitliche Dauer, ein reales Prädi-
cat der Seele abgäbe (Lehrbuch zur Einleit. in die Philo-
sophie §. 115).

152. Die Seele hat gar keine Anlagen und
Vermögen
, weder etwas zu empfangen, noch zu pro-
duciren
.

Sie ist demnach keine tabula rasa in dem Sinne,
als ob darauf fremde Eindrücke gemacht werden könnten;
auch keine, in ursprünglicher Selbstthätigkeit begriffene, Sub-
stanz in Leibnitzens Sinne. Sie hat ursprünglich weder
Vorstellungen, noch Gefühle, noch Begierden; sie weiß nichts
von sich selbst und nichts von andern Dingen; es liegen
auch in ihr keine Formen des Anschauens und Denkens,
keine Gesetze des Wollens und Handelns; auch keinerley,
wie immer entfernte, Vorbereitungen zu dem allen.

153. Das einfache Was der Seele ist völlig unbe-
kannt, und bleibt es auf immer; es ist kein Gegenstand der
speculativen so wenig, als der empirischen Psychologie.

154. Zwischen mehrern, unter sich ungleichartigen, ein-

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[123/0131] auch für physiologische, aber nicht psychologische, Lehren giebt es nothwendige Fictionen im Wege eines gesetzmäßi- gen Denkens, wo das Einfache betrachtet wird, als ließen sich in ihm Theile unterscheiden. Dergleichen Fictionen müs- sen auch auf die Seele, in Hinsicht ihrer Verbindung mit dem Leibe, bezogen, werden, ohne daß darum der Seele selbst irgend eine wahrhafte räumliche Beschaffenheit zuge- schrieben würde. (Einigermaaßen ähnlich sind die Fictionen der Geometer, wenn sie das Krumme als aus geraden Theil- chen bestehend betrachten.) 151. Die Seele ist ferner nicht irgendwann. Den- noch muß sie in dem Denken, worin sie mit andern We- sen zusammengefaßt wird, in die Zeit, und zwar in die ganze Ewigkeit gesetzt werden, ohne doch daß diese Ewig- keit, und überhaupt die zeitliche Dauer, ein reales Prädi- cat der Seele abgäbe (Lehrbuch zur Einleit. in die Philo- sophie §. 115). 152. Die Seele hat gar keine Anlagen und Vermögen, weder etwas zu empfangen, noch zu pro- duciren. Sie ist demnach keine tabula rasa in dem Sinne, als ob darauf fremde Eindrücke gemacht werden könnten; auch keine, in ursprünglicher Selbstthätigkeit begriffene, Sub- stanz in Leibnitzens Sinne. Sie hat ursprünglich weder Vorstellungen, noch Gefühle, noch Begierden; sie weiß nichts von sich selbst und nichts von andern Dingen; es liegen auch in ihr keine Formen des Anschauens und Denkens, keine Gesetze des Wollens und Handelns; auch keinerley, wie immer entfernte, Vorbereitungen zu dem allen. 153. Das einfache Was der Seele ist völlig unbe- kannt, und bleibt es auf immer; es ist kein Gegenstand der speculativen so wenig, als der empirischen Psychologie. 154. Zwischen mehrern, unter sich ungleichartigen, ein-

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834, S. 123. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie_1834/131>, abgerufen am 29.03.2024.