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Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834.

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nehmung nach und nach erzeugt wurden. Diese alle müß-
ten jedoch in eine einzige und völlig ungetheilte Totalkraft
verschmelzen, wenn nicht während der Dauer der Wahrneh-
mung schon eine Hemmung durch ältere, entgegengesetzte
Vorstellungen Statt fände. Um dieser Ursache willen aber
wird die Totalkraft um ein Beträchtliches kleiner, als die
Summe aller elementarischen Auffassungen*)
.

47. Jn der ersten Kindheit wird ein ungleich größerer
Vorrath von einfachen sinnlichen Vorstellungen erzeugt, als
in dem ganzen nachfolgenden Leben, dessen Geschäfft dagegen
in dem mannigfaltigsten Verknüpfen jenes Vorraths besteht.
Obgleich nun auch späterhin die Empfänglichkeit niemals
ganz und gar erlischt, so würden doch dem Mannes-Alter
die Sinneseindrücke noch weit gleichgültiger und unfrucht-
barer werden, als sie wirklich sind, wenn nicht eine Art
von Erneuerung der Empfänglichkeit Statt fände.

Weil nämlich Vorstellungen auf der statischen Schwelle
ganz ohne Wirkung sind für das, was im Bewußtseyn vor-
geht (16), so können sie auch die Empfänglichkeit für die
ihnen gleichartigen neuen Wahrnehmungen nicht schwächen.
Hiemit wäre die Empfänglichkeit vollständig wieder her-
gestellt, wenn nicht gerade durch die neuen Wahrnehmungen
das frühere Hemmungsverhältniß geändert, und den älteren
Vorstellungen eine gewisse Freiheit gegeben würde, sich un-
mittelbar zu reproduciren (26). Jndem dies geschieht, ver-
mindert sich die Empfänglichkeit. Je mehrere nun der gleich-
artigen älteren Vorstellungen vorhanden sind, -- das heißt
gewöhnlich, je länger def Mensch gelebt hat, -- desto meh-
rere treten auf gegebenen Anlaß zugleich hervor. Und so
vermindert sich mit den Jahren auch diese Erneuerung der
Empfänglichkeit.

*) Psychologie I, §. 95, und de attentionis menaurs.

nehmung nach und nach erzeugt wurden. Diese alle müß-
ten jedoch in eine einzige und völlig ungetheilte Totalkraft
verschmelzen, wenn nicht während der Dauer der Wahrneh-
mung schon eine Hemmung durch ältere, entgegengesetzte
Vorstellungen Statt fände. Um dieser Ursache willen aber
wird die Totalkraft um ein Beträchtliches kleiner, als die
Summe aller elementarischen Auffassungen*)
.

47. Jn der ersten Kindheit wird ein ungleich größerer
Vorrath von einfachen sinnlichen Vorstellungen erzeugt, als
in dem ganzen nachfolgenden Leben, dessen Geschäfft dagegen
in dem mannigfaltigsten Verknüpfen jenes Vorraths besteht.
Obgleich nun auch späterhin die Empfänglichkeit niemals
ganz und gar erlischt, so würden doch dem Mannes-Alter
die Sinneseindrücke noch weit gleichgültiger und unfrucht-
barer werden, als sie wirklich sind, wenn nicht eine Art
von Erneuerung der Empfänglichkeit Statt fände.

Weil nämlich Vorstellungen auf der statischen Schwelle
ganz ohne Wirkung sind für das, was im Bewußtseyn vor-
geht (16), so können sie auch die Empfänglichkeit für die
ihnen gleichartigen neuen Wahrnehmungen nicht schwächen.
Hiemit wäre die Empfänglichkeit vollständig wieder her-
gestellt, wenn nicht gerade durch die neuen Wahrnehmungen
das frühere Hemmungsverhältniß geändert, und den älteren
Vorstellungen eine gewisse Freiheit gegeben würde, sich un-
mittelbar zu reproduciren (26). Jndem dies geschieht, ver-
mindert sich die Empfänglichkeit. Je mehrere nun der gleich-
artigen älteren Vorstellungen vorhanden sind, — das heißt
gewöhnlich, je länger def Mensch gelebt hat, — desto meh-
rere treten auf gegebenen Anlaß zugleich hervor. Und so
vermindert sich mit den Jahren auch diese Erneuerung der
Empfänglichkeit.

*) Psychologie I, §. 95, und de attentionis menaurs.
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[34/0042] nehmung nach und nach erzeugt wurden. Diese alle müß- ten jedoch in eine einzige und völlig ungetheilte Totalkraft verschmelzen, wenn nicht während der Dauer der Wahrneh- mung schon eine Hemmung durch ältere, entgegengesetzte Vorstellungen Statt fände. Um dieser Ursache willen aber wird die Totalkraft um ein Beträchtliches kleiner, als die Summe aller elementarischen Auffassungen *) . 47. Jn der ersten Kindheit wird ein ungleich größerer Vorrath von einfachen sinnlichen Vorstellungen erzeugt, als in dem ganzen nachfolgenden Leben, dessen Geschäfft dagegen in dem mannigfaltigsten Verknüpfen jenes Vorraths besteht. Obgleich nun auch späterhin die Empfänglichkeit niemals ganz und gar erlischt, so würden doch dem Mannes-Alter die Sinneseindrücke noch weit gleichgültiger und unfrucht- barer werden, als sie wirklich sind, wenn nicht eine Art von Erneuerung der Empfänglichkeit Statt fände. Weil nämlich Vorstellungen auf der statischen Schwelle ganz ohne Wirkung sind für das, was im Bewußtseyn vor- geht (16), so können sie auch die Empfänglichkeit für die ihnen gleichartigen neuen Wahrnehmungen nicht schwächen. Hiemit wäre die Empfänglichkeit vollständig wieder her- gestellt, wenn nicht gerade durch die neuen Wahrnehmungen das frühere Hemmungsverhältniß geändert, und den älteren Vorstellungen eine gewisse Freiheit gegeben würde, sich un- mittelbar zu reproduciren (26). Jndem dies geschieht, ver- mindert sich die Empfänglichkeit. Je mehrere nun der gleich- artigen älteren Vorstellungen vorhanden sind, — das heißt gewöhnlich, je länger def Mensch gelebt hat, — desto meh- rere treten auf gegebenen Anlaß zugleich hervor. Und so vermindert sich mit den Jahren auch diese Erneuerung der Empfänglichkeit. *) Psychologie I, §. 95, und de attentionis menaurs.

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834, S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie_1834/42>, abgerufen am 28.03.2024.