der Netzhaut des Auges sieht
einzeln und liefert eine geson- derte Empfindung. Manchem Auge fehlt der
Farbensinn zum Theil, einigen ganz, bey übrigens scharfem Sehen. Die
höchste Beweglichkeit, die Fähigkeit sich nahen und fer- nen Gegenständen,
starkem und schwachem Lichte anzupas- sen, endlich sich mit den Augenliedern
willkührlich zu be- decken, sind Vorzüge des Organs. (Es wird sich tiefer unten zeigen, daß eben die Beweglichkeit ganz besonders die Auffassung der
räumlichen Formen vermittelt. Diese ist kei- nesweges so ursprünglich, wie sie
scheint; sie wird gelernt und durchläuft sehr verschiedene Stufen der
Ausbildung)
Anmerkung. Jeder Sinn hat seinen Grad von Schärfe und
Feinheit, seine Weite und Weile. -- Alles bisherige bezieht sich nur auf Empfindungen, nicht auf Anschauungen, welche letztere
die Vorstellung eines Objects, gegenüber andern Objecten
und dem Subjecte, voraussetzen, und deshalb nicht viel weni- ger
als alle sogenannten Seelenvermögen (keinesweges bloß die Sinnlichkeit)
zugleich beschäftigen. Wer sich, wie man es nennt, im Anschauen vergißt und
vertieft, der ist nahe daran, nur noch zu empfinden.
B. Jnnerer Sinn.
74. Kein bemerkbares Organ des Leibes deutet auf einen innern Sinn; allein
nach der Analogie mit den äußern Sinnen hat man jenen angenommen, um ihm die
Auffas- sungen unserer eignen Zustände, in ihrem zeitlichen Wech- sel,
beyzulegen. Der innere Sinn, so fern man ihn für ein besonderes Bestandstück
unserer geistigen Fähigkeit hält (denn übrigens liegt seine Erklärung schon in
der Grund- lehre, 40-43), ist demnach ganz und gar eine Erfindung der
Psychologen, und zwar eine ziemlich mangelhafte Er- findung, denn sie wissen
weder die Klassen von Vorstellun-
der Netzhaut des Auges sieht
einzeln und liefert eine geson- derte Empfindung. Manchem Auge fehlt der
Farbensinn zum Theil, einigen ganz, bey übrigens scharfem Sehen. Die
höchste Beweglichkeit, die Fähigkeit sich nahen und fer- nen Gegenständen,
starkem und schwachem Lichte anzupas- sen, endlich sich mit den Augenliedern
willkührlich zu be- decken, sind Vorzüge des Organs. (Es wird sich tiefer unten zeigen, daß eben die Beweglichkeit ganz besonders die Auffassung der
räumlichen Formen vermittelt. Diese ist kei- nesweges so ursprünglich, wie sie
scheint; sie wird gelernt und durchläuft sehr verschiedene Stufen der
Ausbildung)
Anmerkung. Jeder Sinn hat seinen Grad von Schärfe und
Feinheit, seine Weite und Weile. — Alles bisherige bezieht sich nur auf Empfindungen, nicht auf Anschauungen, welche letztere
die Vorstellung eines Objects, gegenüber andern Objecten
und dem Subjecte, voraussetzen, und deshalb nicht viel weni- ger
als alle sogenannten Seelenvermögen (keinesweges bloß die Sinnlichkeit)
zugleich beschäftigen. Wer sich, wie man es nennt, im Anschauen vergißt und
vertieft, der ist nahe daran, nur noch zu empfinden.
B. Jnnerer Sinn.
74. Kein bemerkbares Organ des Leibes deutet auf einen innern Sinn; allein
nach der Analogie mit den äußern Sinnen hat man jenen angenommen, um ihm die
Auffas- sungen unserer eignen Zustände, in ihrem zeitlichen Wech- sel,
beyzulegen. Der innere Sinn, so fern man ihn für ein besonderes Bestandstück
unserer geistigen Fähigkeit hält (denn übrigens liegt seine Erklärung schon in
der Grund- lehre, 40-43), ist demnach ganz und gar eine Erfindung der
Psychologen, und zwar eine ziemlich mangelhafte Er- findung, denn sie wissen
weder die Klassen von Vorstellun-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0065"n="57"/>
der Netzhaut des Auges sieht
einzeln und liefert eine geson-<lb/>
derte Empfindung. Manchem Auge fehlt der
Farbensinn<lb/>
zum Theil, einigen ganz, bey übrigens scharfem Sehen.<lb/>
Die
höchste Beweglichkeit, die Fähigkeit sich nahen und fer-<lb/>
nen Gegenständen,
starkem und schwachem Lichte anzupas-<lb/>
sen, endlich sich mit den Augenliedern
willkührlich zu be-<lb/>
decken, sind Vorzüge des Organs. (Es wird sich tiefer<lb/>
unten zeigen, daß eben die Beweglichkeit ganz besonders die<lb/>
Auffassung der
räumlichen Formen vermittelt. Diese ist kei-<lb/>
nesweges so ursprünglich, wie sie
scheint; sie wird gelernt<lb/>
und durchläuft sehr verschiedene Stufen der
Ausbildung) </p><lb/><p><hirendition="#g">Anmerkung</hi>. Jeder Sinn hat seinen Grad von<lb/>
Schärfe und
Feinheit, seine Weite und Weile. — Alles<lb/>
bisherige bezieht sich nur auf <hirendition="#g">Empfindungen, nicht<lb/>
auf Anschauungen</hi>, welche letztere
die Vorstellung eines<lb/>
Objects, <hirendition="#g">gegenüber andern Objecten
und dem<lb/>
Subjecte, voraussetzen</hi>, und deshalb nicht viel weni-<lb/>
ger
als alle sogenannten Seelenvermögen (keinesweges bloß<lb/>
die Sinnlichkeit)
zugleich beschäftigen. Wer sich, wie man<lb/>
es nennt, im Anschauen vergißt und
vertieft, der ist nahe<lb/>
daran, nur noch zu empfinden.</p></div><lb/><divn="4"><head><hirendition="#g">B. Jnnerer Sinn.</hi></head><lb/><p>74. Kein bemerkbares Organ des Leibes deutet auf<lb/>
einen innern Sinn; allein
nach der Analogie mit den äußern<lb/>
Sinnen hat man jenen angenommen, um ihm die
Auffas-<lb/>
sungen unserer eignen Zustände, in ihrem zeitlichen Wech-<lb/>
sel,
beyzulegen. Der innere Sinn, so fern man ihn für<lb/>
ein besonderes Bestandstück
unserer geistigen Fähigkeit hält<lb/>
(denn übrigens liegt seine Erklärung schon in
der Grund-<lb/>
lehre, 40-43), ist demnach ganz und gar eine Erfindung<lb/>
der
Psychologen, und zwar eine ziemlich mangelhafte Er-<lb/>
findung, denn sie wissen
weder die Klassen von Vorstellun-<lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[57/0065]
der Netzhaut des Auges sieht einzeln und liefert eine geson-
derte Empfindung. Manchem Auge fehlt der Farbensinn
zum Theil, einigen ganz, bey übrigens scharfem Sehen.
Die höchste Beweglichkeit, die Fähigkeit sich nahen und fer-
nen Gegenständen, starkem und schwachem Lichte anzupas-
sen, endlich sich mit den Augenliedern willkührlich zu be-
decken, sind Vorzüge des Organs. (Es wird sich tiefer
unten zeigen, daß eben die Beweglichkeit ganz besonders die
Auffassung der räumlichen Formen vermittelt. Diese ist kei-
nesweges so ursprünglich, wie sie scheint; sie wird gelernt
und durchläuft sehr verschiedene Stufen der Ausbildung)
Anmerkung. Jeder Sinn hat seinen Grad von
Schärfe und Feinheit, seine Weite und Weile. — Alles
bisherige bezieht sich nur auf Empfindungen, nicht
auf Anschauungen, welche letztere die Vorstellung eines
Objects, gegenüber andern Objecten und dem
Subjecte, voraussetzen, und deshalb nicht viel weni-
ger als alle sogenannten Seelenvermögen (keinesweges bloß
die Sinnlichkeit) zugleich beschäftigen. Wer sich, wie man
es nennt, im Anschauen vergißt und vertieft, der ist nahe
daran, nur noch zu empfinden.
B. Jnnerer Sinn.
74. Kein bemerkbares Organ des Leibes deutet auf
einen innern Sinn; allein nach der Analogie mit den äußern
Sinnen hat man jenen angenommen, um ihm die Auffas-
sungen unserer eignen Zustände, in ihrem zeitlichen Wech-
sel, beyzulegen. Der innere Sinn, so fern man ihn für
ein besonderes Bestandstück unserer geistigen Fähigkeit hält
(denn übrigens liegt seine Erklärung schon in der Grund-
lehre, 40-43), ist demnach ganz und gar eine Erfindung
der Psychologen, und zwar eine ziemlich mangelhafte Er-
findung, denn sie wissen weder die Klassen von Vorstellun-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Google Books: Bereitstellung der Bilddigitalisate
(2013-07-05T12:13:38Z)
Thomas Gloning: Bereitstellung der Texttranskription.
(2013-07-05T12:13:38Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Hannah Sophia Glaum: Umwandlung in DTABf-konformes Markup.
(2013-07-05T12:13:38Z)
Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie_1834/65>, abgerufen am 13.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.