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Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834.

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es sind, wodurch die Begriffe dem Jdeal mehr und mehr
angenähert werden, daher sie den letztern in gewissem Sin-
ne vorangehen; es wird endlich klar werden, daß aus dieser
Wirksamkeit der Urtheile sehr wichtige Folgen für die me-
taphysischen
Begriffe insbesondere sich ergeben.

79. Wie diejenigen Vorstellungen der Menschen, die
man Begriffe nennt, beschaffen seyn, darüber frage man die
Wörterbücher und die Sprachlehren. Jene zeigen uns für
jedes Wort einen Gedanken, der zwischen einer Menge ver-
schiedener, zuweilen kaum vereinbarer Merkmale umher-
schwankt. Diese verrathen, daß statt der allgemeinen Be-
griffe (wie Mensch, Baum) die Vorstellung von Einem
unter Vielen, die durch den unbestimmten Artikel (ein
Mensch, ein Baum) angedeutet wird, überall gebräuchlich
ist, wo nicht ausdrücklich logische Foderungen geltend ge-
macht werden. Daher ist denn kein Wunder, daß die aller-
meisten Menschen nicht einmal gute Nominal-Definitionen
in Bereitschaft haben, wenn sie gefragt werden, was sie
bey diesem oder jenem Worte denken. Anstatt also, wie es
der Logik gemäß geschehen sollte, jeden allgemeinen Begriff
zunächst bloß seinem Jnhalte nach vorzustellen, und die An-
wendung auf den Umfang als etwas dem Begriffe selbst
zufalliges zu betrachten: haben die Menschen gewisse Ge-
sammt-Eindrücke von vielen ähnlichen Gegenständen mit
Worten bezeichnet; und der Bedeutung dieser Worte, die
keinesweges vest bestimmt ist, muß im Gebrauch jedesmal
der Zusammenhang soweit nachhelfen, daß man vorzugsweise
an gewisse Merkmale eines übrigens unbestimmten Gedankens
erinnert werde.

Man sieht hieraus, mit welchem verkehrt ge-
stellten Probleme man die Psychologie belasten
würde, wenn man ihr anmuthen wollte, den Ur-

es sind, wodurch die Begriffe dem Jdeal mehr und mehr
angenähert werden, daher sie den letztern in gewissem Sin-
ne vorangehen; es wird endlich klar werden, daß aus dieser
Wirksamkeit der Urtheile sehr wichtige Folgen für die me-
taphysischen
Begriffe insbesondere sich ergeben.

79. Wie diejenigen Vorstellungen der Menschen, die
man Begriffe nennt, beschaffen seyn, darüber frage man die
Wörterbücher und die Sprachlehren. Jene zeigen uns für
jedes Wort einen Gedanken, der zwischen einer Menge ver-
schiedener, zuweilen kaum vereinbarer Merkmale umher-
schwankt. Diese verrathen, daß statt der allgemeinen Be-
griffe (wie Mensch, Baum) die Vorstellung von Einem
unter Vielen, die durch den unbestimmten Artikel (ein
Mensch, ein Baum) angedeutet wird, überall gebräuchlich
ist, wo nicht ausdrücklich logische Foderungen geltend ge-
macht werden. Daher ist denn kein Wunder, daß die aller-
meisten Menschen nicht einmal gute Nominal-Definitionen
in Bereitschaft haben, wenn sie gefragt werden, was sie
bey diesem oder jenem Worte denken. Anstatt also, wie es
der Logik gemäß geschehen sollte, jeden allgemeinen Begriff
zunächst bloß seinem Jnhalte nach vorzustellen, und die An-
wendung auf den Umfang als etwas dem Begriffe selbst
zufalliges zu betrachten: haben die Menschen gewisse Ge-
sammt-Eindrücke von vielen ähnlichen Gegenständen mit
Worten bezeichnet; und der Bedeutung dieser Worte, die
keinesweges vest bestimmt ist, muß im Gebrauch jedesmal
der Zusammenhang soweit nachhelfen, daß man vorzugsweise
an gewisse Merkmale eines übrigens unbestimmten Gedankens
erinnert werde.

Man sieht hieraus, mit welchem verkehrt ge-
stellten Probleme man die Psychologie belasten
würde, wenn man ihr anmuthen wollte, den Ur-

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[63/0071] es sind, wodurch die Begriffe dem Jdeal mehr und mehr angenähert werden, daher sie den letztern in gewissem Sin- ne vorangehen; es wird endlich klar werden, daß aus dieser Wirksamkeit der Urtheile sehr wichtige Folgen für die me- taphysischen Begriffe insbesondere sich ergeben. 79. Wie diejenigen Vorstellungen der Menschen, die man Begriffe nennt, beschaffen seyn, darüber frage man die Wörterbücher und die Sprachlehren. Jene zeigen uns für jedes Wort einen Gedanken, der zwischen einer Menge ver- schiedener, zuweilen kaum vereinbarer Merkmale umher- schwankt. Diese verrathen, daß statt der allgemeinen Be- griffe (wie Mensch, Baum) die Vorstellung von Einem unter Vielen, die durch den unbestimmten Artikel (ein Mensch, ein Baum) angedeutet wird, überall gebräuchlich ist, wo nicht ausdrücklich logische Foderungen geltend ge- macht werden. Daher ist denn kein Wunder, daß die aller- meisten Menschen nicht einmal gute Nominal-Definitionen in Bereitschaft haben, wenn sie gefragt werden, was sie bey diesem oder jenem Worte denken. Anstatt also, wie es der Logik gemäß geschehen sollte, jeden allgemeinen Begriff zunächst bloß seinem Jnhalte nach vorzustellen, und die An- wendung auf den Umfang als etwas dem Begriffe selbst zufalliges zu betrachten: haben die Menschen gewisse Ge- sammt-Eindrücke von vielen ähnlichen Gegenständen mit Worten bezeichnet; und der Bedeutung dieser Worte, die keinesweges vest bestimmt ist, muß im Gebrauch jedesmal der Zusammenhang soweit nachhelfen, daß man vorzugsweise an gewisse Merkmale eines übrigens unbestimmten Gedankens erinnert werde. Man sieht hieraus, mit welchem verkehrt ge- stellten Probleme man die Psychologie belasten würde, wenn man ihr anmuthen wollte, den Ur-

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie_1834/71>, abgerufen am 29.03.2024.