Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

lens und Fühlens zusammengenommen, eine vollständige
Einteilung ergeben; es muß also auch die Wünsche, die
Triebe, und jede Sehnsucht mit umfassen, indem man
dies alles nicht zu den Gefühlen, noch zu den Vorstellun-
gen rechnen kann. Nun findet sich aber in den Psychologie-
en die Behauptung: was man begehre, das werde als er-
reichbar vorgestellt; die Meinung des Nicht-Könnens tödte
das Begehren. Dieser Satz ist richtig vom Wollen, wel-
ches eben ein Begehren, verbunden mit der Vor-
aussetzung der Erfüllung
ist. Darum ist ein großer
Unterschied zwischen starkem Wollen und starkem Begehren.
Napoleon wollte als Kaiser, und begehrte auf St. He-
lena. Der Ausdruck Begehren wird wider die Absicht
beschränkt, wenn man die Wünsche ausschließt, welche blei-
ben, ungeachtet dessen, daß sie leere, oder vielleicht soge-
nannte fromme Wünsche seyn mögen, und welche eben
darum
, weil sie bleiben, den Menschen stets von neuem
zu Versuchen antreiben, durch welche der Gedanke einer
Möglichkeit immer neu erzeugt wird, trotz allen Grün-
den, welche die Unmöglichkeit darzuthun scheinen. Es gehört
sehr viel dazu, der Vorstellung von der Unerreichbarkeit des
Gewünschten Stärke genug zu geben, damit eine ruhige
Verzichtleistung an die Stelle des Verlangens trete. Der
Mensch erträumt sich eine wünschenswerthe Zukunft, wenn
er schon weiß, sie werde nie eintreten.

108. Gemäß der zuvor gemachten Eintheilung der
Gefühle, müssen wir nun auch bey den Begierden (das
Wort im weitesten Sinne genommen) diejenigen, welche ein
Angenehmes als solches (die Verabscheuungen ein Unange-
nehmes als solches), zum Gegenstande haben, unterscheiden
von andern, denen kein Gefühl, sondern bloß die eben vor-
handene Gemüthslage ihre Richtung bestimmt.

Anmerkung. Gewöhnlich wird die letztere Art der

lens und Fühlens zusammengenommen, eine vollständige
Einteilung ergeben; es muß also auch die Wünsche, die
Triebe, und jede Sehnsucht mit umfassen, indem man
dies alles nicht zu den Gefühlen, noch zu den Vorstellun-
gen rechnen kann. Nun findet sich aber in den Psychologie-
en die Behauptung: was man begehre, das werde als er-
reichbar vorgestellt; die Meinung des Nicht-Könnens tödte
das Begehren. Dieser Satz ist richtig vom Wollen, wel-
ches eben ein Begehren, verbunden mit der Vor-
aussetzung der Erfüllung
ist. Darum ist ein großer
Unterschied zwischen starkem Wollen und starkem Begehren.
Napoleon wollte als Kaiser, und begehrte auf St. He-
lena. Der Ausdruck Begehren wird wider die Absicht
beschränkt, wenn man die Wünsche ausschließt, welche blei-
ben, ungeachtet dessen, daß sie leere, oder vielleicht soge-
nannte fromme Wünsche seyn mögen, und welche eben
darum
, weil sie bleiben, den Menschen stets von neuem
zu Versuchen antreiben, durch welche der Gedanke einer
Möglichkeit immer neu erzeugt wird, trotz allen Grün-
den, welche die Unmöglichkeit darzuthun scheinen. Es gehört
sehr viel dazu, der Vorstellung von der Unerreichbarkeit des
Gewünschten Stärke genug zu geben, damit eine ruhige
Verzichtleistung an die Stelle des Verlangens trete. Der
Mensch erträumt sich eine wünschenswerthe Zukunft, wenn
er schon weiß, sie werde nie eintreten.

108. Gemäß der zuvor gemachten Eintheilung der
Gefühle, müssen wir nun auch bey den Begierden (das
Wort im weitesten Sinne genommen) diejenigen, welche ein
Angenehmes als solches (die Verabscheuungen ein Unange-
nehmes als solches), zum Gegenstande haben, unterscheiden
von andern, denen kein Gefühl, sondern bloß die eben vor-
handene Gemüthslage ihre Richtung bestimmt.

Anmerkung. Gewöhnlich wird die letztere Art der

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0093" n="85"/>
lens und Fühlens zusammengenommen, eine vollständige<lb/>
Einteilung ergeben; es muß also auch die <hi rendition="#g">Wünsche</hi>, die<lb/><hi rendition="#g">Triebe</hi>, und jede <hi rendition="#g">Sehnsucht</hi> mit
               umfassen, indem man<lb/>
dies alles nicht zu den Gefühlen, noch zu den
               Vorstellun-<lb/>
gen rechnen kann. Nun findet sich aber in den Psychologie-<lb/>
en
               die Behauptung: was man begehre, das werde als er-<lb/>
reichbar vorgestellt; die
               Meinung des Nicht-Könnens tödte<lb/>
das Begehren. Dieser Satz ist richtig vom <hi rendition="#g">Wollen</hi>, wel-<lb/>
ches eben ein <hi rendition="#g">Begehren,
                 verbunden mit der Vor-<lb/>
aussetzung der Erfüllung</hi> ist. Darum ist ein großer<lb/>
Unterschied zwischen starkem Wollen und starkem Begehren.<lb/>
Napoleon <hi rendition="#g">wollte</hi> als Kaiser, und <hi rendition="#g">begehrte</hi> auf St.
               He-<lb/>
lena. Der Ausdruck <hi rendition="#g">Begehren</hi> wird wider die Absicht<lb/>
beschränkt, wenn man die Wünsche ausschließt, welche blei-<lb/>
ben, ungeachtet
               dessen, daß sie <hi rendition="#g">leere</hi>, oder vielleicht soge-<lb/>
nannte <hi rendition="#g">fromme Wünsche</hi> seyn mögen, und welche <hi rendition="#g">eben<lb/>
darum</hi>, weil sie bleiben, den Menschen stets von neuem<lb/>
zu Versuchen
               antreiben, durch welche der Gedanke einer<lb/>
Möglichkeit immer <hi rendition="#g">neu erzeugt</hi> wird, trotz allen Grün-<lb/>
den, welche die Unmöglichkeit
               darzuthun scheinen. Es gehört<lb/>
sehr viel dazu, der Vorstellung von der
               Unerreichbarkeit des<lb/>
Gewünschten <hi rendition="#g">Stärke genug</hi> zu geben,
               damit eine ruhige<lb/>
Verzichtleistung an die Stelle des Verlangens trete. Der<lb/>
Mensch erträumt sich eine wünschenswerthe Zukunft, wenn<lb/>
er schon weiß, sie werde
               nie eintreten.</p><lb/>
            <p>108. Gemäß der zuvor gemachten Eintheilung der<lb/>
Gefühle, müssen wir nun auch bey
               den Begierden (das<lb/>
Wort im weitesten Sinne genommen) diejenigen, welche ein<lb/>
Angenehmes als solches (die Verabscheuungen ein Unange-<lb/>
nehmes als
               solches), zum Gegenstande haben, unterscheiden<lb/>
von andern, denen kein Gefühl,
               sondern bloß die eben vor-<lb/>
handene Gemüthslage ihre Richtung bestimmt.</p><lb/>
            <p><hi rendition="#g">Anmerkung</hi>. Gewöhnlich wird die letztere Art der<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[85/0093] lens und Fühlens zusammengenommen, eine vollständige Einteilung ergeben; es muß also auch die Wünsche, die Triebe, und jede Sehnsucht mit umfassen, indem man dies alles nicht zu den Gefühlen, noch zu den Vorstellun- gen rechnen kann. Nun findet sich aber in den Psychologie- en die Behauptung: was man begehre, das werde als er- reichbar vorgestellt; die Meinung des Nicht-Könnens tödte das Begehren. Dieser Satz ist richtig vom Wollen, wel- ches eben ein Begehren, verbunden mit der Vor- aussetzung der Erfüllung ist. Darum ist ein großer Unterschied zwischen starkem Wollen und starkem Begehren. Napoleon wollte als Kaiser, und begehrte auf St. He- lena. Der Ausdruck Begehren wird wider die Absicht beschränkt, wenn man die Wünsche ausschließt, welche blei- ben, ungeachtet dessen, daß sie leere, oder vielleicht soge- nannte fromme Wünsche seyn mögen, und welche eben darum, weil sie bleiben, den Menschen stets von neuem zu Versuchen antreiben, durch welche der Gedanke einer Möglichkeit immer neu erzeugt wird, trotz allen Grün- den, welche die Unmöglichkeit darzuthun scheinen. Es gehört sehr viel dazu, der Vorstellung von der Unerreichbarkeit des Gewünschten Stärke genug zu geben, damit eine ruhige Verzichtleistung an die Stelle des Verlangens trete. Der Mensch erträumt sich eine wünschenswerthe Zukunft, wenn er schon weiß, sie werde nie eintreten. 108. Gemäß der zuvor gemachten Eintheilung der Gefühle, müssen wir nun auch bey den Begierden (das Wort im weitesten Sinne genommen) diejenigen, welche ein Angenehmes als solches (die Verabscheuungen ein Unange- nehmes als solches), zum Gegenstande haben, unterscheiden von andern, denen kein Gefühl, sondern bloß die eben vor- handene Gemüthslage ihre Richtung bestimmt. Anmerkung. Gewöhnlich wird die letztere Art der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Google Books: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2013-07-05T12:13:38Z)
Thomas Gloning: Bereitstellung der Texttranskription. (2013-07-05T12:13:38Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Hannah Sophia Glaum: Umwandlung in DTABf-konformes Markup. (2013-07-05T12:13:38Z)
Stefanie Seim: Nachkorrekturen. (2013-07-05T12:13:38Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Bogensignaturen: nicht übernommen
  • fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet
  • langes s (ſ): als s transkribiert
  • rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert
  • Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie_1834/93
Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie_1834/93>, abgerufen am 28.03.2024.