Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Von der Ähnlichkeit der mittlern englischen und deutschen Dichtkunst. In: Deutsches Museum. Bd. 2, Stück 11 (1777), S. 421–435.

Bild:
<< vorherige Seite

man also die Denkart des Volks, ihre Sprache der Empfindung kennen lernet, dies Liedchen hat etwa gar Shakespear gekannt, daraus einige Reihen geborget u.f. Mit milder Schonung sezt man sich also in die alten Zeiten zurück, in die Denkart des Volks hinab, liegt, hört, lächelt etwa, erfreuet sich mit oder überschlägt und lernet. Ueberall indeß sieht man, aus welchen rohen, kleinen, verachteten Samenkörnern der herrliche Wald ihrer Nazionaldichtkunst worden? aus welchem Marke der Nazion Spenser und Shakespear wuchsen.

Grosses Reich, Reich von zehn Völkern, Deutschland! Du hast keinen Shakespear, hast du auch keine Gesänge deiner Vorfahren, deren du dich rühmen könntest? Schweizer, Schwaben, Franken, Bayern, Westphäler, Sachsen, Wenden, Preussen, ihr habt allesamt nichts? Die Stimme eurer Väter ist verklungen und schweigt im Staube? Volk von tapfrer Sitte, von edler Tugend, und Sprache, du hast keine Abdrücke deiner Seele die Zeiten hinunter?

Kein Zweifel! Sie sind gewesen, sie sind vielleicht noch da; nur sie liegen unter Schlamm, sind verkannt und verachtet. Noch neulich ist eine Schüssel voll Schlamm öffentlich aufgetragen, damit die Nazion ja nicht zu etwas besserm Lust bekomme, als ob solcher Schlamm das Gold wäre, das man führt, und das ja auch selbst der klassische Virgil in den Eingeweiden Ennius nicht verschmähte. Nur wir müssen Hand anlegen, aufnehmen, suchen, ehe wir Alle klassisch gebildet dastehn, französische Lieder singen, wie französische Menuets tanzen, oder gar allesammt Hexameter und horazische Oden schreiben. Das Licht der sogenannten Kultur will jedes Winkelchen erleuchten, und Sachen der Art liegen nur im Winkel. Legt also Hand an, meine Brüder, und zeigt unsrer Nazion, was sie ist und nicht ist? wie sie dachte und fühlte, oder wie sie denkt und fühlt. Welche herrliche Stücke haben da die Engländer bey ihrem Suchen gefunden! Freylich nicht fürs Papier gemacht und auf ihm kaum lesbar; aber dafür voll lebendigen Geistes, im vollen Kreise des

man also die Denkart des Volks, ihre Sprache der Empfindung kennen lernet, dies Liedchen hat etwa gar Shakespear gekannt, daraus einige Reihen geborget u.f. Mit milder Schonung sezt man sich also in die alten Zeiten zurück, in die Denkart des Volks hinab, liegt, hört, lächelt etwa, erfreuet sich mit oder überschlägt und lernet. Ueberall indeß sieht man, aus welchen rohen, kleinen, verachteten Samenkörnern der herrliche Wald ihrer Nazionaldichtkunst worden? aus welchem Marke der Nazion Spenser und Shakespear wuchsen.

Grosses Reich, Reich von zehn Völkern, Deutschland! Du hast keinen Shakespear, hast du auch keine Gesänge deiner Vorfahren, deren du dich rühmen könntest? Schweizer, Schwaben, Franken, Bayern, Westphäler, Sachsen, Wenden, Preussen, ihr habt allesamt nichts? Die Stimme eurer Väter ist verklungen und schweigt im Staube? Volk von tapfrer Sitte, von edler Tugend, und Sprache, du hast keine Abdrücke deiner Seele die Zeiten hinunter?

Kein Zweifel! Sie sind gewesen, sie sind vielleicht noch da; nur sie liegen unter Schlamm, sind verkannt und verachtet. Noch neulich ist eine Schüssel voll Schlamm öffentlich aufgetragen, damit die Nazion ja nicht zu etwas besserm Lust bekomme, als ob solcher Schlamm das Gold wäre, das man führt, und das ja auch selbst der klassische Virgil in den Eingeweiden Ennius nicht verschmähte. Nur wir müssen Hand anlegen, aufnehmen, suchen, ehe wir Alle klassisch gebildet dastehn, französische Lieder singen, wie französische Menuets tanzen, oder gar allesammt Hexameter und horazische Oden schreiben. Das Licht der sogenannten Kultur will jedes Winkelchen erleuchten, und Sachen der Art liegen nur im Winkel. Legt also Hand an, meine Brüder, und zeigt unsrer Nazion, was sie ist und nicht ist? wie sie dachte und fühlte, oder wie sie denkt und fühlt. Welche herrliche Stücke haben da die Engländer bey ihrem Suchen gefunden! Freylich nicht fürs Papier gemacht und auf ihm kaum lesbar; aber dafür voll lebendigen Geistes, im vollen Kreise des

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <p><pb facs="#f0011" n="430"/>
man also die   Denkart des Volks, ihre Sprache der Empfindung kennen lernet, dies Liedchen hat etwa gar <hi rendition="#fr">Shakespear</hi> gekannt, daraus einige Reihen geborget u.f. Mit milder Schonung sezt man   sich also in die alten Zeiten zurück, in die Denkart des Volks hinab, liegt, hört, lächelt   etwa, erfreuet sich mit oder überschlägt und lernet. Ueberall indeß sieht man, aus welchen  rohen, kleinen, verachteten Samenkörnern der herrliche Wald ihrer Nazionaldichtkunst   worden? aus welchem Marke der Nazion <hi rendition="#fr">Spenser</hi> und <hi rendition="#fr">Shakespear</hi> wuchsen.  </p><lb/>
        <p>  Grosses Reich, Reich von zehn Völkern, Deutschland! Du hast keinen <hi rendition="#fr">Shakespear</hi>, hast du   auch keine Gesänge deiner Vorfahren, deren du dich rühmen könntest? <hi rendition="#fr">Schweizer, Schwaben,   Franken, Bayern, Westphäler, Sachsen, Wenden, Preussen</hi>, ihr habt allesamt nichts? Die Stimme   eurer Väter ist verklungen und schweigt im Staube? Volk von tapfrer Sitte, von edler Tugend,   und Sprache, du hast keine Abdrücke deiner Seele die Zeiten hinunter?  </p><lb/>
        <p>  Kein Zweifel! Sie sind gewesen, sie sind vielleicht noch da; nur sie liegen unter Schlamm,  sind verkannt und verachtet. Noch neulich ist eine Schüssel voll Schlamm öffentlich   aufgetragen, damit die Nazion ja nicht zu etwas besserm Lust bekomme, als ob solcher   Schlamm das Gold wäre, das man führt, und das ja auch selbst der klassische <hi rendition="#fr">Virgil</hi> in   den Eingeweiden <hi rendition="#fr">Ennius</hi> nicht verschmähte. Nur wir müssen Hand anlegen, aufnehmen,   suchen, ehe wir Alle klassisch gebildet dastehn, französische Lieder singen, wie   französische Menuets tanzen, oder gar allesammt Hexameter und horazische Oden schreiben.   Das Licht der sogenannten Kultur will jedes Winkelchen erleuchten, und Sachen der Art   liegen nur im Winkel. Legt also Hand an, meine Brüder, und zeigt unsrer Nazion, was sie   ist und nicht ist? wie sie dachte und fühlte, oder wie sie denkt und fühlt. Welche   herrliche Stücke haben da die Engländer bey ihrem Suchen gefunden! Freylich nicht   fürs Papier gemacht und auf ihm kaum lesbar; aber dafür voll lebendigen Geistes, im   vollen Kreise des
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[430/0011] man also die Denkart des Volks, ihre Sprache der Empfindung kennen lernet, dies Liedchen hat etwa gar Shakespear gekannt, daraus einige Reihen geborget u.f. Mit milder Schonung sezt man sich also in die alten Zeiten zurück, in die Denkart des Volks hinab, liegt, hört, lächelt etwa, erfreuet sich mit oder überschlägt und lernet. Ueberall indeß sieht man, aus welchen rohen, kleinen, verachteten Samenkörnern der herrliche Wald ihrer Nazionaldichtkunst worden? aus welchem Marke der Nazion Spenser und Shakespear wuchsen. Grosses Reich, Reich von zehn Völkern, Deutschland! Du hast keinen Shakespear, hast du auch keine Gesänge deiner Vorfahren, deren du dich rühmen könntest? Schweizer, Schwaben, Franken, Bayern, Westphäler, Sachsen, Wenden, Preussen, ihr habt allesamt nichts? Die Stimme eurer Väter ist verklungen und schweigt im Staube? Volk von tapfrer Sitte, von edler Tugend, und Sprache, du hast keine Abdrücke deiner Seele die Zeiten hinunter? Kein Zweifel! Sie sind gewesen, sie sind vielleicht noch da; nur sie liegen unter Schlamm, sind verkannt und verachtet. Noch neulich ist eine Schüssel voll Schlamm öffentlich aufgetragen, damit die Nazion ja nicht zu etwas besserm Lust bekomme, als ob solcher Schlamm das Gold wäre, das man führt, und das ja auch selbst der klassische Virgil in den Eingeweiden Ennius nicht verschmähte. Nur wir müssen Hand anlegen, aufnehmen, suchen, ehe wir Alle klassisch gebildet dastehn, französische Lieder singen, wie französische Menuets tanzen, oder gar allesammt Hexameter und horazische Oden schreiben. Das Licht der sogenannten Kultur will jedes Winkelchen erleuchten, und Sachen der Art liegen nur im Winkel. Legt also Hand an, meine Brüder, und zeigt unsrer Nazion, was sie ist und nicht ist? wie sie dachte und fühlte, oder wie sie denkt und fühlt. Welche herrliche Stücke haben da die Engländer bey ihrem Suchen gefunden! Freylich nicht fürs Papier gemacht und auf ihm kaum lesbar; aber dafür voll lebendigen Geistes, im vollen Kreise des

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Universität Duisburg-Essen, Projekt Lyriktheorie (Dr. Rudolf Brandmeyer): Bereitstellung der Texttranskription. (2018-10-12T13:46:53Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Rahel Gajaneh Hartz: Bearbeitung der digitalen Edition. (2018-10-12T13:46:53Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: keine Angabe; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: keine Angabe; Kustoden: nicht gekennzeichnet; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: DTABf-getreu; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_aehnlichkeit_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_aehnlichkeit_1777/11
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Von der Ähnlichkeit der mittlern englischen und deutschen Dichtkunst. In: Deutsches Museum. Bd. 2, Stück 11 (1777), S. 421–435, hier S. 430. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_aehnlichkeit_1777/11>, abgerufen am 28.03.2024.