Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Von der Ähnlichkeit der mittlern englischen und deutschen Dichtkunst. In: Deutsches Museum. Bd. 2, Stück 11 (1777), S. 421–435.

Bild:
<< vorherige Seite

Lessing hat über zwo litthauische Lieder seine Stimme gegeben: Kleist hat ein Lied der Lappen und Kannibalen nachgebildet, und Gerstenberg wie schöne Stücke der alten Dänen übersezt gegeben. Welche schöne Aernte wäre noch dahinten! - Wenn Leibniz den menschlichen Wiz und Scharfsinn nie wirksamer erklärt als in Spielen; wahrlich so ist das menschliche Herz und die volle Einbildungskraft nie wirksamer als in den Naturgesängen solcher Völker. Sie öfnen das Herz, wenn man sie höret, und wie viele Dinge in unsrer künstlichen Welt schliessen und mauern es zu!

Auch den Regeln der Dichtkunst endlich, die wir uns meistens aus Griechen und Römern geformt haben, thun Proben und Sammlungen der Art nicht ungut. Auch die Griechen waren einst, wenn wir so wollen, Wilde, und selbst in den Blüthen ihrer schönsten Zeit ist weit mehr Natur, als das blinzende Auge der Scholiasten und Klassiker findet. Bey Homer hats noch neulich Wood abermals gezeiget: er sang aus alten Sagen, und sein Hexameter war nichts als Sangweise der griechischen Romanze. Tyrtäus Kriegsgesänge sind griechische Balladen, und wenn Arion, Orpheus, Amphion lebten, so waren sie edle griechische Schamanen. Die alte Komödie entsprang aus Spottliedern und Mummereyen voll Hefen und Tanz; die Tragödie aus Chören und Dithyramben, d.i. alten lyrischen Volkssagen und Göttergeschichten. Wenn nun Frau Sappho und ein litthauisches Mädchen die Liebe auf gleiche Art singen, wahrlich so müssen die Regeln ihres Gesanges wahr seyn, sie sind Natur der Liebe und reichen bis ans Ende der Erde. Wenn Tyrtäus und der Isländer gleichen Schlachtgesang anstimmet: so ist der Ton wahr, er reicht bis ans Ende der Erden. Ist aber wesentliche Ungleichheit da, will man uns Nazionalformen oder gar gelehrte Uebereinkommnisse über Produkte eines Erdwinkels für Geseze Gottes und der Natur aufbürden: sollte es da nicht erlaubt seyn das Marienbild und den Esel zu unterscheiden, der das Marienbild trägt?

Lessing hat über zwo litthauische Lieder seine Stimme gegeben: Kleist hat ein Lied der Lappen und Kannibalen nachgebildet, und Gerstenberg wie schöne Stücke der alten Dänen übersezt gegeben. Welche schöne Aernte wäre noch dahinten! – Wenn Leibniz den menschlichen Wiz und Scharfsinn nie wirksamer erklärt als in Spielen; wahrlich so ist das menschliche Herz und die volle Einbildungskraft nie wirksamer als in den Naturgesängen solcher Völker. Sie öfnen das Herz, wenn man sie höret, und wie viele Dinge in unsrer künstlichen Welt schliessen und mauern es zu!

Auch den Regeln der Dichtkunst endlich, die wir uns meistens aus Griechen und Römern geformt haben, thun Proben und Sammlungen der Art nicht ungut. Auch die Griechen waren einst, wenn wir so wollen, Wilde, und selbst in den Blüthen ihrer schönsten Zeit ist weit mehr Natur, als das blinzende Auge der Scholiasten und Klassiker findet. Bey Homer hats noch neulich Wood abermals gezeiget: er sang aus alten Sagen, und sein Hexameter war nichts als Sangweise der griechischen Romanze. Tyrtäus Kriegsgesänge sind griechische Balladen, und wenn Arion, Orpheus, Amphion lebten, so waren sie edle griechische Schamanen. Die alte Komödie entsprang aus Spottliedern und Mummereyen voll Hefen und Tanz; die Tragödie aus Chören und Dithyramben, d.i. alten lyrischen Volkssagen und Göttergeschichten. Wenn nun Frau Sappho und ein litthauisches Mädchen die Liebe auf gleiche Art singen, wahrlich so müssen die Regeln ihres Gesanges wahr seyn, sie sind Natur der Liebe und reichen bis ans Ende der Erde. Wenn Tyrtäus und der Isländer gleichen Schlachtgesang anstimmet: so ist der Ton wahr, er reicht bis ans Ende der Erden. Ist aber wesentliche Ungleichheit da, will man uns Nazionalformen oder gar gelehrte Uebereinkommnisse über Produkte eines Erdwinkels für Geseze Gottes und der Natur aufbürden: sollte es da nicht erlaubt seyn das Marienbild und den Esel zu unterscheiden, der das Marienbild trägt?

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <p><pb facs="#f0015" n="434"/><hi rendition="#fr">Lessing</hi> hat über zwo litthauische Lieder seine Stimme gegeben: <hi rendition="#fr">Kleist</hi> hat ein Lied der   Lappen und Kannibalen nachgebildet, und <hi rendition="#fr">Gerstenberg</hi> wie schöne Stücke der alten Dänen   übersezt gegeben. Welche schöne Aernte wäre noch dahinten! &#x2013; Wenn Leibniz den   menschlichen Wiz und Scharfsinn nie wirksamer erklärt als in Spielen; wahrlich so   ist das menschliche Herz und die volle Einbildungskraft nie wirksamer als in den   Naturgesängen solcher Völker. Sie öfnen das Herz, wenn man sie höret, und wie   viele Dinge in unsrer künstlichen Welt schliessen und mauern es zu!  </p><lb/>
        <p>  Auch den Regeln der Dichtkunst endlich, die wir uns meistens aus Griechen und   Römern geformt haben, thun Proben und Sammlungen der Art nicht ungut. Auch die   Griechen waren einst, wenn wir so wollen, Wilde, und selbst in den Blüthen ihrer   schönsten Zeit ist weit mehr Natur, als das blinzende Auge der Scholiasten und   Klassiker findet. Bey <hi rendition="#fr">Homer</hi> hats noch neulich <hi rendition="#fr">Wood</hi> abermals gezeiget: er sang   aus alten Sagen, und sein Hexameter war nichts als Sangweise der griechischen   Romanze. <hi rendition="#fr">Tyrtäus</hi> Kriegsgesänge sind griechische Balladen, und wenn <hi rendition="#fr">Arion,   Orpheus, Amphion</hi> lebten, so waren sie edle griechische Schamanen. Die alte   Komödie entsprang aus Spottliedern und Mummereyen voll Hefen und Tanz; die   Tragödie aus Chören und Dithyramben, d.i. alten lyrischen Volkssagen und   Göttergeschichten. Wenn nun Frau <hi rendition="#fr">Sappho</hi> und ein <hi rendition="#fr">litthauisches</hi> Mädchen  die Liebe auf gleiche Art singen, wahrlich  so müssen die Regeln ihres Gesanges wahr seyn, sie sind Natur   der Liebe und reichen bis ans Ende der Erde. Wenn <hi rendition="#fr">Tyrtäus</hi> und der   Isländer gleichen Schlachtgesang anstimmet: so ist der Ton wahr, er   reicht bis ans Ende der Erden. Ist aber wesentliche Ungleichheit da,   will man uns Nazionalformen oder gar gelehrte Uebereinkommnisse über   Produkte eines Erdwinkels für Geseze Gottes und der Natur aufbürden:   sollte es da nicht erlaubt seyn das Marienbild und den Esel zu   unterscheiden, der das Marienbild trägt?  </p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[434/0015] Lessing hat über zwo litthauische Lieder seine Stimme gegeben: Kleist hat ein Lied der Lappen und Kannibalen nachgebildet, und Gerstenberg wie schöne Stücke der alten Dänen übersezt gegeben. Welche schöne Aernte wäre noch dahinten! – Wenn Leibniz den menschlichen Wiz und Scharfsinn nie wirksamer erklärt als in Spielen; wahrlich so ist das menschliche Herz und die volle Einbildungskraft nie wirksamer als in den Naturgesängen solcher Völker. Sie öfnen das Herz, wenn man sie höret, und wie viele Dinge in unsrer künstlichen Welt schliessen und mauern es zu! Auch den Regeln der Dichtkunst endlich, die wir uns meistens aus Griechen und Römern geformt haben, thun Proben und Sammlungen der Art nicht ungut. Auch die Griechen waren einst, wenn wir so wollen, Wilde, und selbst in den Blüthen ihrer schönsten Zeit ist weit mehr Natur, als das blinzende Auge der Scholiasten und Klassiker findet. Bey Homer hats noch neulich Wood abermals gezeiget: er sang aus alten Sagen, und sein Hexameter war nichts als Sangweise der griechischen Romanze. Tyrtäus Kriegsgesänge sind griechische Balladen, und wenn Arion, Orpheus, Amphion lebten, so waren sie edle griechische Schamanen. Die alte Komödie entsprang aus Spottliedern und Mummereyen voll Hefen und Tanz; die Tragödie aus Chören und Dithyramben, d.i. alten lyrischen Volkssagen und Göttergeschichten. Wenn nun Frau Sappho und ein litthauisches Mädchen die Liebe auf gleiche Art singen, wahrlich so müssen die Regeln ihres Gesanges wahr seyn, sie sind Natur der Liebe und reichen bis ans Ende der Erde. Wenn Tyrtäus und der Isländer gleichen Schlachtgesang anstimmet: so ist der Ton wahr, er reicht bis ans Ende der Erden. Ist aber wesentliche Ungleichheit da, will man uns Nazionalformen oder gar gelehrte Uebereinkommnisse über Produkte eines Erdwinkels für Geseze Gottes und der Natur aufbürden: sollte es da nicht erlaubt seyn das Marienbild und den Esel zu unterscheiden, der das Marienbild trägt?

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Universität Duisburg-Essen, Projekt Lyriktheorie (Dr. Rudolf Brandmeyer): Bereitstellung der Texttranskription. (2018-10-12T13:46:53Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Rahel Gajaneh Hartz: Bearbeitung der digitalen Edition. (2018-10-12T13:46:53Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: keine Angabe; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: keine Angabe; Kustoden: nicht gekennzeichnet; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: DTABf-getreu; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_aehnlichkeit_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_aehnlichkeit_1777/15
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Von der Ähnlichkeit der mittlern englischen und deutschen Dichtkunst. In: Deutsches Museum. Bd. 2, Stück 11 (1777), S. 421–435, hier S. 434. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_aehnlichkeit_1777/15>, abgerufen am 24.04.2024.