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Herder, Johann Gottfried von: Von der Ähnlichkeit der mittlern englischen und deutschen Dichtkunst. In: Deutsches Museum. Bd. 2, Stück 11 (1777), S. 421–435.

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Hurd hat den Ursprung und die Gestalt der mittlern Ritterpoesie aus dem damaligen Zustande Europens in einigen Stücken gut, obwohl nichts minder als vollständig erkläret. Es war Feudalverfassung, die nachher Ritterzeit gebar, und die die Vorrede unsers aufgepuzten Heldenbuchs im Mährchenton von Riesen, Zwergen, Unthieren und Würmern sehr wahr schildert. Mir ist noch keine Geschichte bekannt, wo diese Verfassung recht karakteristisch für Deutschlands Poesie, Sitten und Denkart behandelt und in alle Züge nach fremden Ländern verfolgt wäre? - Aber freylich haben wir noch nichts weniger, als eine Geschichte der deutschen Poesie und Sprache! Auch sind unter so vielen Akademien und Sozietäten in Deutschland wie wenige, die selbst in tüchtigen Fragen sich die Mühe nehmen, einzelne Oerter aufzuräumen und ungebahnte Wege zu zeigen.

Ich weis wohl, was wir, zumal im juristisch-diplomatisch-historischen Fache, hier für mühsame Vorarbeiten haben; diese Vorarbeiten aber sind alle noch erst zu nuzen und zu beleben. Unsre ganze mittlere Geschichte ist Pathologie, und meistens nur Pathologie des Kopfs, d.i. des Kaisers und einiger Reichsstände. Physiologie des ganzen Nazionalkörpers - was für ein ander Ding! und wie sich hiezu Denkart, Bildung, Sitte, Vortrag, Sprache verhielt, welch ein Meer ist da noch zu beschiffen und wie schöne Inseln und unbekannte Flecke hie und da zu finden! Wir haben noch keinen Cürne de St. Palage über unser Ritterthum, noch keinen Warton über unsre mittlere Dichtkunst. Goldast, Schilter, Schatz, Opitz, Eckard haben trefliche Fußstapfen gelassen: Frehers Manuskripte sind zerstreuet: einige reiche Bibliotheken zerstreuet und geplündert; wenn sammlen sich einst die Schäze dieser Art zusammen, und wo arbeitet der Mann, der Jüngling vielleicht im Stillen, die Göttin unsres Vaterlands damit zu schmücken und also darzustellen dem Volke? Freylich, wenn wir in den mittlern Zeiten nur Shakespeare und Spenser gehabt hätten; an Theobalden und Upston, Warton und Johnson sollte es

Hurd hat den Ursprung und die Gestalt der mittlern Ritterpoesie aus dem damaligen Zustande Europens in einigen Stücken gut, obwohl nichts minder als vollständig erkläret. Es war Feudalverfassung, die nachher Ritterzeit gebar, und die die Vorrede unsers aufgepuzten Heldenbuchs im Mährchenton von Riesen, Zwergen, Unthieren und Würmern sehr wahr schildert. Mir ist noch keine Geschichte bekannt, wo diese Verfassung recht karakteristisch für Deutschlands Poesie, Sitten und Denkart behandelt und in alle Züge nach fremden Ländern verfolgt wäre? – Aber freylich haben wir noch nichts weniger, als eine Geschichte der deutschen Poesie und Sprache! Auch sind unter so vielen Akademien und Sozietäten in Deutschland wie wenige, die selbst in tüchtigen Fragen sich die Mühe nehmen, einzelne Oerter aufzuräumen und ungebahnte Wege zu zeigen.

Ich weis wohl, was wir, zumal im juristisch-diplomatisch-historischen Fache, hier für mühsame Vorarbeiten haben; diese Vorarbeiten aber sind alle noch erst zu nuzen und zu beleben. Unsre ganze mittlere Geschichte ist Pathologie, und meistens nur Pathologie des Kopfs, d.i. des Kaisers und einiger Reichsstände. Physiologie des ganzen Nazionalkörpers – was für ein ander Ding! und wie sich hiezu Denkart, Bildung, Sitte, Vortrag, Sprache verhielt, welch ein Meer ist da noch zu beschiffen und wie schöne Inseln und unbekannte Flecke hie und da zu finden! Wir haben noch keinen Cürne de St. Palage über unser Ritterthum, noch keinen Warton über unsre mittlere Dichtkunst. Goldast, Schilter, Schatz, Opitz, Eckard haben trefliche Fußstapfen gelassen: Frehers Manuskripte sind zerstreuet: einige reiche Bibliotheken zerstreuet und geplündert; wenn sammlen sich einst die Schäze dieser Art zusammen, und wo arbeitet der Mann, der Jüngling vielleicht im Stillen, die Göttin unsres Vaterlands damit zu schmücken und also darzustellen dem Volke? Freylich, wenn wir in den mittlern Zeiten nur Shakespeare und Spenser gehabt hätten; an Theobalden und Upston, Warton und Johnson sollte es

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[423/0004] Hurd hat den Ursprung und die Gestalt der mittlern Ritterpoesie aus dem damaligen Zustande Europens in einigen Stücken gut, obwohl nichts minder als vollständig erkläret. Es war Feudalverfassung, die nachher Ritterzeit gebar, und die die Vorrede unsers aufgepuzten Heldenbuchs im Mährchenton von Riesen, Zwergen, Unthieren und Würmern sehr wahr schildert. Mir ist noch keine Geschichte bekannt, wo diese Verfassung recht karakteristisch für Deutschlands Poesie, Sitten und Denkart behandelt und in alle Züge nach fremden Ländern verfolgt wäre? – Aber freylich haben wir noch nichts weniger, als eine Geschichte der deutschen Poesie und Sprache! Auch sind unter so vielen Akademien und Sozietäten in Deutschland wie wenige, die selbst in tüchtigen Fragen sich die Mühe nehmen, einzelne Oerter aufzuräumen und ungebahnte Wege zu zeigen. Ich weis wohl, was wir, zumal im juristisch-diplomatisch-historischen Fache, hier für mühsame Vorarbeiten haben; diese Vorarbeiten aber sind alle noch erst zu nuzen und zu beleben. Unsre ganze mittlere Geschichte ist Pathologie, und meistens nur Pathologie des Kopfs, d.i. des Kaisers und einiger Reichsstände. Physiologie des ganzen Nazionalkörpers – was für ein ander Ding! und wie sich hiezu Denkart, Bildung, Sitte, Vortrag, Sprache verhielt, welch ein Meer ist da noch zu beschiffen und wie schöne Inseln und unbekannte Flecke hie und da zu finden! Wir haben noch keinen Cürne de St. Palage über unser Ritterthum, noch keinen Warton über unsre mittlere Dichtkunst. Goldast, Schilter, Schatz, Opitz, Eckard haben trefliche Fußstapfen gelassen: Frehers Manuskripte sind zerstreuet: einige reiche Bibliotheken zerstreuet und geplündert; wenn sammlen sich einst die Schäze dieser Art zusammen, und wo arbeitet der Mann, der Jüngling vielleicht im Stillen, die Göttin unsres Vaterlands damit zu schmücken und also darzustellen dem Volke? Freylich, wenn wir in den mittlern Zeiten nur Shakespeare und Spenser gehabt hätten; an Theobalden und Upston, Warton und Johnson sollte es

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Von der Ähnlichkeit der mittlern englischen und deutschen Dichtkunst. In: Deutsches Museum. Bd. 2, Stück 11 (1777), S. 421–435, hier S. 423. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_aehnlichkeit_1777/4>, abgerufen am 29.03.2024.