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Herder, Johann Gottfried von: Von der Ähnlichkeit der mittlern englischen und deutschen Dichtkunst. In: Deutsches Museum. Bd. 2, Stück 11 (1777), S. 421–435.

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wie verbreitet und getheilet? Deutschland überhaupt und einzelne Provinzen Deutschlands haben hierin die sonderbarsten Aehnlichkeiten und Abweichungen: Provinzen, wo noch der ganze Geist der Edda von Unholden, Zauberern, Riesenweibern, Valkyriur selbst dem Ton der Erzählung nach voll ist; andre Provinzen, wo schon mildere Mährchen, fast ovidische Verwandlungen, sanfte Abentheuer und Feinheit der Einkleidung herrschet. Die alte wendische, schwäbische, sächsische, holsteinische Mythologie, sofern sie noch in Volkssagen und Volksliedern lebt, mit Treue aufgenommen, mit Helle angeschaut, mit Fruchtbarkeit bearbeitet, wäre wahrlich eine Fundgrube für den Dichter und Redner seines Volks, für den Sittenbilder und Philosophen.

Wenn nun auch hier England und Deutschland grosse Gemeinschaft haben, wie weiter wären wir, wenn wir diese Volksmeynungen und Sagen auch so gebraucht hätten, wie die Britten und unsre Poesie so ganz darauf gebaut wäre, als dort Chaucer, Spenser, Shakespear auf Glauben des Volks baueten, daher schufen und daher nahmen. Wo sind unsre Chaucer, Spenser und Shakespeare? Wie weit stehen unsre Meistersänger unter jenen! und wo auch diese Gold enthalten, wer hat sie gesammlet? wer mag sich um sie kümmern? Und doch sind wirklich beyde Nazionen in diesen Grundadern der Dichtung sich bis auf Wendungen, Reime, Lieblingssylbenmasse und Vorstellungsarten so ähnlich, wie ein jeder wissen muß, der Rittererzählungen, Balladen, Mährchen beyder Völker kennet. Der ganze Ton dieser Poesien ist so einförmig, daß man oft Wort für Wort übersezen, Wendung für Wendung, Inversion gegen Inversion übertragen kann. In allen Ländern Europens hat der Rittergeist nur Ein Wörterbuch, und so auch die Erzählung im Ton desselben, Ballade, Romanze überall dieselbe Haupt- und Nebenworte, einerley Fallendungen und Freyheiten im Sylbenmasse, in Verwerfung der Töne und Flicksylben, selbst einerley Lieblingslieder, romantische Pflanzen und Kräuter, Thiere und Vögel. Wer Shakespear in dieser Absicht stu-

wie verbreitet und getheilet? Deutschland überhaupt und einzelne Provinzen Deutschlands haben hierin die sonderbarsten Aehnlichkeiten und Abweichungen: Provinzen, wo noch der ganze Geist der Edda von Unholden, Zauberern, Riesenweibern, Valkyriur selbst dem Ton der Erzählung nach voll ist; andre Provinzen, wo schon mildere Mährchen, fast ovidische Verwandlungen, sanfte Abentheuer und Feinheit der Einkleidung herrschet. Die alte wendische, schwäbische, sächsische, holsteinische Mythologie, sofern sie noch in Volkssagen und Volksliedern lebt, mit Treue aufgenommen, mit Helle angeschaut, mit Fruchtbarkeit bearbeitet, wäre wahrlich eine Fundgrube für den Dichter und Redner seines Volks, für den Sittenbilder und Philosophen.

Wenn nun auch hier England und Deutschland grosse Gemeinschaft haben, wie weiter wären wir, wenn wir diese Volksmeynungen und Sagen auch so gebraucht hätten, wie die Britten und unsre Poesie so ganz darauf gebaut wäre, als dort Chaucer, Spenser, Shakespear auf Glauben des Volks baueten, daher schufen und daher nahmen. Wo sind unsre Chaucer, Spenser und Shakespeare? Wie weit stehen unsre Meistersänger unter jenen! und wo auch diese Gold enthalten, wer hat sie gesammlet? wer mag sich um sie kümmern? Und doch sind wirklich beyde Nazionen in diesen Grundadern der Dichtung sich bis auf Wendungen, Reime, Lieblingssylbenmasse und Vorstellungsarten so ähnlich, wie ein jeder wissen muß, der Rittererzählungen, Balladen, Mährchen beyder Völker kennet. Der ganze Ton dieser Poesien ist so einförmig, daß man oft Wort für Wort übersezen, Wendung für Wendung, Inversion gegen Inversion übertragen kann. In allen Ländern Europens hat der Rittergeist nur Ein Wörterbuch, und so auch die Erzählung im Ton desselben, Ballade, Romanze überall dieselbe Haupt- und Nebenworte, einerley Fallendungen und Freyheiten im Sylbenmasse, in Verwerfung der Töne und Flicksylben, selbst einerley Lieblingslieder, romantische Pflanzen und Kräuter, Thiere und Vögel. Wer Shakespear in dieser Absicht stu-

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[425/0006] wie verbreitet und getheilet? Deutschland überhaupt und einzelne Provinzen Deutschlands haben hierin die sonderbarsten Aehnlichkeiten und Abweichungen: Provinzen, wo noch der ganze Geist der Edda von Unholden, Zauberern, Riesenweibern, Valkyriur selbst dem Ton der Erzählung nach voll ist; andre Provinzen, wo schon mildere Mährchen, fast ovidische Verwandlungen, sanfte Abentheuer und Feinheit der Einkleidung herrschet. Die alte wendische, schwäbische, sächsische, holsteinische Mythologie, sofern sie noch in Volkssagen und Volksliedern lebt, mit Treue aufgenommen, mit Helle angeschaut, mit Fruchtbarkeit bearbeitet, wäre wahrlich eine Fundgrube für den Dichter und Redner seines Volks, für den Sittenbilder und Philosophen. Wenn nun auch hier England und Deutschland grosse Gemeinschaft haben, wie weiter wären wir, wenn wir diese Volksmeynungen und Sagen auch so gebraucht hätten, wie die Britten und unsre Poesie so ganz darauf gebaut wäre, als dort Chaucer, Spenser, Shakespear auf Glauben des Volks baueten, daher schufen und daher nahmen. Wo sind unsre Chaucer, Spenser und Shakespeare? Wie weit stehen unsre Meistersänger unter jenen! und wo auch diese Gold enthalten, wer hat sie gesammlet? wer mag sich um sie kümmern? Und doch sind wirklich beyde Nazionen in diesen Grundadern der Dichtung sich bis auf Wendungen, Reime, Lieblingssylbenmasse und Vorstellungsarten so ähnlich, wie ein jeder wissen muß, der Rittererzählungen, Balladen, Mährchen beyder Völker kennet. Der ganze Ton dieser Poesien ist so einförmig, daß man oft Wort für Wort übersezen, Wendung für Wendung, Inversion gegen Inversion übertragen kann. In allen Ländern Europens hat der Rittergeist nur Ein Wörterbuch, und so auch die Erzählung im Ton desselben, Ballade, Romanze überall dieselbe Haupt- und Nebenworte, einerley Fallendungen und Freyheiten im Sylbenmasse, in Verwerfung der Töne und Flicksylben, selbst einerley Lieblingslieder, romantische Pflanzen und Kräuter, Thiere und Vögel. Wer Shakespear in dieser Absicht stu-

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Von der Ähnlichkeit der mittlern englischen und deutschen Dichtkunst. In: Deutsches Museum. Bd. 2, Stück 11 (1777), S. 421–435, hier S. 425. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_aehnlichkeit_1777/6>, abgerufen am 25.04.2024.