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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785.

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Kräfte des Menschen wachsen, nachdem sie gebauet und ge-
übt werden; der beste Anbau derselben indessen ist Proportion
ihrer aller zu einer wahrhaft-menschlichen Lebensweise, daß
keine herrsche und sich keine verliere. Dies Verhältniß ändert
sich mit jedem Lande und Klima. Der Anwohner heißer
Gegenden ißt mit wildem Geschmack für uns höchst eckelhafte
Speisen: denn seine Natur fodert sie als Arzneien, als ret-
tende Wohlthata).

Gesicht und Gehör endlich sind die edelsten Sinne, zu
denen der Mensch schon seiner organischen Anlage nach vor-
züglich geschaffen worden: denn bei ihm sind die Werkzeuge
dieser Sinne vor allen Thieren Kunstreich ausgebildet. Zu
welcher Schärfe haben manche Nationen Auge und Ohr ge-
bracht! Der Kalmucke sieht Rauch, wo ihn kein Europäisches
Auge gewahr wird: der scheue Araber horcht weit umher in
seiner stillen Wüste. Wenn nun mit dem Gebrauch dieser
scharfen und feinen Sinne sich zugleich eine ungestörte Auf-
merksamkeit verbindet: so zeigen es abermals viele Völker,
wie weit es auch im kleinsten Werk der Geübte vor dem Un-
geübten zu bringen vermöge. Die jagenden Völker kennen
jeden Strauch und Baum ihres Landes: die Nord-Ameri-
kaner verirren sich nie in ihren Wäldern; hunderte von Mei-

len
a) Wilsons Beobachtungen über den Einfluß des Klima S. 93. u. f.

Kraͤfte des Menſchen wachſen, nachdem ſie gebauet und ge-
uͤbt werden; der beſte Anbau derſelben indeſſen iſt Proportion
ihrer aller zu einer wahrhaft-menſchlichen Lebensweiſe, daß
keine herrſche und ſich keine verliere. Dies Verhaͤltniß aͤndert
ſich mit jedem Lande und Klima. Der Anwohner heißer
Gegenden ißt mit wildem Geſchmack fuͤr uns hoͤchſt eckelhafte
Speiſen: denn ſeine Natur fodert ſie als Arzneien, als ret-
tende Wohlthata).

Geſicht und Gehoͤr endlich ſind die edelſten Sinne, zu
denen der Menſch ſchon ſeiner organiſchen Anlage nach vor-
zuͤglich geſchaffen worden: denn bei ihm ſind die Werkzeuge
dieſer Sinne vor allen Thieren Kunſtreich ausgebildet. Zu
welcher Schaͤrfe haben manche Nationen Auge und Ohr ge-
bracht! Der Kalmucke ſieht Rauch, wo ihn kein Europaͤiſches
Auge gewahr wird: der ſcheue Araber horcht weit umher in
ſeiner ſtillen Wuͤſte. Wenn nun mit dem Gebrauch dieſer
ſcharfen und feinen Sinne ſich zugleich eine ungeſtoͤrte Auf-
merkſamkeit verbindet: ſo zeigen es abermals viele Voͤlker,
wie weit es auch im kleinſten Werk der Geuͤbte vor dem Un-
geuͤbten zu bringen vermoͤge. Die jagenden Voͤlker kennen
jeden Strauch und Baum ihres Landes: die Nord-Ameri-
kaner verirren ſich nie in ihren Waͤldern; hunderte von Mei-

len
a) Wilſons Beobachtungen uͤber den Einfluß des Klima S. 93. u. f.
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[138/0150] Kraͤfte des Menſchen wachſen, nachdem ſie gebauet und ge- uͤbt werden; der beſte Anbau derſelben indeſſen iſt Proportion ihrer aller zu einer wahrhaft-menſchlichen Lebensweiſe, daß keine herrſche und ſich keine verliere. Dies Verhaͤltniß aͤndert ſich mit jedem Lande und Klima. Der Anwohner heißer Gegenden ißt mit wildem Geſchmack fuͤr uns hoͤchſt eckelhafte Speiſen: denn ſeine Natur fodert ſie als Arzneien, als ret- tende Wohlthat a). Geſicht und Gehoͤr endlich ſind die edelſten Sinne, zu denen der Menſch ſchon ſeiner organiſchen Anlage nach vor- zuͤglich geſchaffen worden: denn bei ihm ſind die Werkzeuge dieſer Sinne vor allen Thieren Kunſtreich ausgebildet. Zu welcher Schaͤrfe haben manche Nationen Auge und Ohr ge- bracht! Der Kalmucke ſieht Rauch, wo ihn kein Europaͤiſches Auge gewahr wird: der ſcheue Araber horcht weit umher in ſeiner ſtillen Wuͤſte. Wenn nun mit dem Gebrauch dieſer ſcharfen und feinen Sinne ſich zugleich eine ungeſtoͤrte Auf- merkſamkeit verbindet: ſo zeigen es abermals viele Voͤlker, wie weit es auch im kleinſten Werk der Geuͤbte vor dem Un- geuͤbten zu bringen vermoͤge. Die jagenden Voͤlker kennen jeden Strauch und Baum ihres Landes: die Nord-Ameri- kaner verirren ſich nie in ihren Waͤldern; hunderte von Mei- len a) Wilſons Beobachtungen uͤber den Einfluß des Klima S. 93. u. f.

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/150>, abgerufen am 19.04.2024.