Anwohner des Aequators glauben würde, jene ungeheuren Massen schöngefärbter Eisklumpen, jene prächtigen Nord- lichter, wunderbare Täuschungen des Auges durch die Luft und bey der großen Kälte von oben die oft warmen Erdklüf- teb). Jn steilen, zerfallnen Felsen scheint sich der hervor- gehende Granit viel weiter hinauf zu erstrecken, als ers beym Südpol thun konnte, so wie überhaupt dem größten Theil nach die bewohnbare Erde auf dem nordlichen Hemisphär ru- het. Und da das Meer der erste Wohnplatz der Lebendigen war: so kann man das nordliche Meer mit der großen Fülle seiner Bewohner noch jetzt als eine Gebährmutter des Lebens und die Ufer desselben als den Rand betrachten, auf dem sich in Moosen, Jnsekten und Würmern die Organisation der Erdgeschöpfe anfängt. Seevögel begrüssen das Land, das noch weniges eignes Gefieder nähret: Meerthiere und Am- phibien kriechen hervor, um sich am seltnen Stral der ländli- chen Sonne zu wärmen. Mitten im regsten Getümmel des Wassers zeigt sich gleichsam die Grenze der lebendigen Er- deschöpfung.
Und wie hat sich die Organisation des Menschen auf die- ser Grenze erhalten? Alles, was die Kälte an ihm thun konnte,
war,
b) S. Phipps Reisen, Cranz Geschichte von Grönland u. f.
A 3
Anwohner des Aequators glauben wuͤrde, jene ungeheuren Maſſen ſchoͤngefaͤrbter Eisklumpen, jene praͤchtigen Nord- lichter, wunderbare Taͤuſchungen des Auges durch die Luft und bey der großen Kaͤlte von oben die oft warmen Erdkluͤf- teb). Jn ſteilen, zerfallnen Felſen ſcheint ſich der hervor- gehende Granit viel weiter hinauf zu erſtrecken, als ers beym Suͤdpol thun konnte, ſo wie uͤberhaupt dem groͤßten Theil nach die bewohnbare Erde auf dem nordlichen Hemiſphaͤr ru- het. Und da das Meer der erſte Wohnplatz der Lebendigen war: ſo kann man das nordliche Meer mit der großen Fuͤlle ſeiner Bewohner noch jetzt als eine Gebaͤhrmutter des Lebens und die Ufer deſſelben als den Rand betrachten, auf dem ſich in Mooſen, Jnſekten und Wuͤrmern die Organiſation der Erdgeſchoͤpfe anfaͤngt. Seevoͤgel begruͤſſen das Land, das noch weniges eignes Gefieder naͤhret: Meerthiere und Am- phibien kriechen hervor, um ſich am ſeltnen Stral der laͤndli- chen Sonne zu waͤrmen. Mitten im regſten Getuͤmmel des Waſſers zeigt ſich gleichſam die Grenze der lebendigen Er- deſchoͤpfung.
Und wie hat ſich die Organiſation des Menſchen auf die- ſer Grenze erhalten? Alles, was die Kaͤlte an ihm thun konnte,
war,
b) S. Phipps Reiſen, Cranz Geſchichte von Groͤnland u. f.
A 3
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0017"n="5"/>
Anwohner des Aequators glauben wuͤrde, jene ungeheuren<lb/>
Maſſen ſchoͤngefaͤrbter Eisklumpen, jene praͤchtigen Nord-<lb/>
lichter, wunderbare Taͤuſchungen des Auges durch die Luft<lb/>
und bey der großen Kaͤlte von oben die oft warmen Erdkluͤf-<lb/>
te<noteplace="foot"n="b)">S. <hirendition="#fr">Phipps</hi> Reiſen, <hirendition="#fr">Cranz</hi> Geſchichte von Groͤnland u. f.</note>. Jn ſteilen, zerfallnen Felſen ſcheint ſich der hervor-<lb/>
gehende Granit viel weiter hinauf zu erſtrecken, als ers beym<lb/>
Suͤdpol thun konnte, ſo wie uͤberhaupt dem groͤßten Theil<lb/>
nach die bewohnbare Erde auf dem nordlichen Hemiſphaͤr ru-<lb/>
het. Und da das Meer der erſte Wohnplatz der Lebendigen<lb/>
war: ſo kann man das nordliche Meer mit der großen Fuͤlle<lb/>ſeiner Bewohner noch jetzt als eine Gebaͤhrmutter des Lebens<lb/>
und die Ufer deſſelben als den Rand betrachten, auf dem ſich<lb/>
in Mooſen, Jnſekten und Wuͤrmern die Organiſation der<lb/>
Erdgeſchoͤpfe anfaͤngt. Seevoͤgel begruͤſſen das Land, das<lb/>
noch weniges eignes Gefieder naͤhret: Meerthiere und Am-<lb/>
phibien kriechen hervor, um ſich am ſeltnen Stral der laͤndli-<lb/>
chen Sonne zu waͤrmen. Mitten im regſten Getuͤmmel des<lb/>
Waſſers zeigt ſich gleichſam die Grenze der lebendigen Er-<lb/>
deſchoͤpfung.</p><lb/><p>Und wie hat ſich die Organiſation des Menſchen auf die-<lb/>ſer Grenze erhalten? Alles, was die Kaͤlte an ihm thun konnte,<lb/><fwplace="bottom"type="sig">A 3</fw><fwplace="bottom"type="catch">war,</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[5/0017]
Anwohner des Aequators glauben wuͤrde, jene ungeheuren
Maſſen ſchoͤngefaͤrbter Eisklumpen, jene praͤchtigen Nord-
lichter, wunderbare Taͤuſchungen des Auges durch die Luft
und bey der großen Kaͤlte von oben die oft warmen Erdkluͤf-
te b). Jn ſteilen, zerfallnen Felſen ſcheint ſich der hervor-
gehende Granit viel weiter hinauf zu erſtrecken, als ers beym
Suͤdpol thun konnte, ſo wie uͤberhaupt dem groͤßten Theil
nach die bewohnbare Erde auf dem nordlichen Hemiſphaͤr ru-
het. Und da das Meer der erſte Wohnplatz der Lebendigen
war: ſo kann man das nordliche Meer mit der großen Fuͤlle
ſeiner Bewohner noch jetzt als eine Gebaͤhrmutter des Lebens
und die Ufer deſſelben als den Rand betrachten, auf dem ſich
in Mooſen, Jnſekten und Wuͤrmern die Organiſation der
Erdgeſchoͤpfe anfaͤngt. Seevoͤgel begruͤſſen das Land, das
noch weniges eignes Gefieder naͤhret: Meerthiere und Am-
phibien kriechen hervor, um ſich am ſeltnen Stral der laͤndli-
chen Sonne zu waͤrmen. Mitten im regſten Getuͤmmel des
Waſſers zeigt ſich gleichſam die Grenze der lebendigen Er-
deſchoͤpfung.
Und wie hat ſich die Organiſation des Menſchen auf die-
ſer Grenze erhalten? Alles, was die Kaͤlte an ihm thun konnte,
war,
b) S. Phipps Reiſen, Cranz Geſchichte von Groͤnland u. f.
A 3
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/17>, abgerufen am 23.04.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.