Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 10. Riga, 1797.

Bild:
<< vorherige Seite

1. Vor allem sei man unpartheiisch
wie der Genius der Menschheit selbst; man
habe keinen Lieblingsstamm, kein Favorit-
volk auf der Erde. Leicht verführt eine
solche Vorliebe, daß man der begünstigten
Nation zu viel Gutes, andern zu viel Bö-
ses zuschreibe. Wäre vollends das ge-
liebte Volk blos ein collectiver Name, (Cel-
ten, Semiten, Cuschiten u. f.) der vielleicht
nirgend exsistirt hat, dessen Abstammung
und Fortpflanzung man nicht erweisen
kann: so hätte man ins Blaue des Him-
mels geschrieben.

2. Noch minder beleidige man verach-
tend irgend eine Völkerschaft, die uns nie
beleidigt hat. Wenn Schriftsteller auch
nicht hoffen dörften, daß die guten Grund-
sätze, die sie verbreiten, überall schnellen
Eingang finden, so ist die Hut, gefährliche

1. Vor allem ſei man unpartheiiſch
wie der Genius der Menſchheit ſelbſt; man
habe keinen Lieblingsſtamm, kein Favorit-
volk auf der Erde. Leicht verfuͤhrt eine
ſolche Vorliebe, daß man der beguͤnſtigten
Nation zu viel Gutes, andern zu viel Boͤ-
ſes zuſchreibe. Waͤre vollends das ge-
liebte Volk blos ein collectiver Name, (Cel-
ten, Semiten, Cuſchiten u. f.) der vielleicht
nirgend exſiſtirt hat, deſſen Abſtammung
und Fortpflanzung man nicht erweiſen
kann: ſo haͤtte man ins Blaue des Him-
mels geſchrieben.

2. Noch minder beleidige man verach-
tend irgend eine Voͤlkerſchaft, die uns nie
beleidigt hat. Wenn Schriftſteller auch
nicht hoffen doͤrften, daß die guten Grund-
ſaͤtze, die ſie verbreiten, uͤberall ſchnellen
Eingang finden, ſo iſt die Hut, gefaͤhrliche

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0078" n="71"/>
        <p>1. Vor allem &#x017F;ei man <hi rendition="#g">unpartheii&#x017F;ch</hi><lb/>
wie der Genius der Men&#x017F;chheit &#x017F;elb&#x017F;t; man<lb/>
habe keinen Lieblings&#x017F;tamm, kein Favorit-<lb/>
volk auf der Erde. Leicht verfu&#x0364;hrt eine<lb/>
&#x017F;olche Vorliebe, daß man der begu&#x0364;n&#x017F;tigten<lb/>
Nation zu viel Gutes, andern zu viel Bo&#x0364;-<lb/>
&#x017F;es zu&#x017F;chreibe. Wa&#x0364;re vollends das ge-<lb/>
liebte Volk blos ein collectiver Name, (Cel-<lb/>
ten, Semiten, Cu&#x017F;chiten u. f.) der vielleicht<lb/>
nirgend ex&#x017F;i&#x017F;tirt hat, de&#x017F;&#x017F;en Ab&#x017F;tammung<lb/>
und Fortpflanzung man nicht erwei&#x017F;en<lb/>
kann: &#x017F;o ha&#x0364;tte man ins Blaue des Him-<lb/>
mels ge&#x017F;chrieben.</p><lb/>
        <p>2. Noch minder beleidige man verach-<lb/>
tend irgend eine Vo&#x0364;lker&#x017F;chaft, die uns nie<lb/>
beleidigt hat. Wenn Schrift&#x017F;teller auch<lb/>
nicht hoffen do&#x0364;rften, daß die guten Grund-<lb/>
&#x017F;a&#x0364;tze, die &#x017F;ie verbreiten, u&#x0364;berall &#x017F;chnellen<lb/>
Eingang finden, &#x017F;o i&#x017F;t die Hut, gefa&#x0364;hrliche<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[71/0078] 1. Vor allem ſei man unpartheiiſch wie der Genius der Menſchheit ſelbſt; man habe keinen Lieblingsſtamm, kein Favorit- volk auf der Erde. Leicht verfuͤhrt eine ſolche Vorliebe, daß man der beguͤnſtigten Nation zu viel Gutes, andern zu viel Boͤ- ſes zuſchreibe. Waͤre vollends das ge- liebte Volk blos ein collectiver Name, (Cel- ten, Semiten, Cuſchiten u. f.) der vielleicht nirgend exſiſtirt hat, deſſen Abſtammung und Fortpflanzung man nicht erweiſen kann: ſo haͤtte man ins Blaue des Him- mels geſchrieben. 2. Noch minder beleidige man verach- tend irgend eine Voͤlkerſchaft, die uns nie beleidigt hat. Wenn Schriftſteller auch nicht hoffen doͤrften, daß die guten Grund- ſaͤtze, die ſie verbreiten, uͤberall ſchnellen Eingang finden, ſo iſt die Hut, gefaͤhrliche

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet10_1797
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet10_1797/78
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 10. Riga, 1797, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet10_1797/78>, abgerufen am 28.03.2024.