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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 1. Riga, 1767.

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mehr als eine äußere Mathematische Lehrart
verstehet, so wird jeder seine Entschuldigung
für Wahrheit annehmen. Jugendliche Ein-
kleidungen in Briefe, und Gespräche; die
Episoden in den Briefen, und die fremden
Eingänge in den Gesprächen: scheint mir ein
Putz, den die Philosophische Würde nicht
braucht. Denkende Leser führt er von der
Betrachtung der Wahrheit selbst ab: sie müs-
sen sich von den Spazziergängen nachher wie-
der zurück finden: und wer blos wegen die-
ser Einkleidungen lieset -- für den hat Mo-
ses nicht geschrieben: eine Braut blos wegen
ihres Putzes lieben, ist lächerlich. Der Weise
sehe seinen Gegenstand so helle als Moses;
er zeige ihn im rechten Gesichtspunkte, er lei-
te die Jdeen natürlich fort, er habe die Er-
läuterungen, und die Sprache in seiner Ge-
walt: so wird eine simple Abhandlung draus
werden, ohne Trockenheit und fremden
Schmuck; sie wird ihren ganzen Zweck er-
reichen, einem Leser, der Wahrheit sucht und
liebt, ohne Zwang und Umwege, ein Geleits-
mann zu seyn -- wozu? nicht zu lernen, son-
dern selbst zu denken. So sind die Abhand-

lun-

mehr als eine aͤußere Mathematiſche Lehrart
verſtehet, ſo wird jeder ſeine Entſchuldigung
fuͤr Wahrheit annehmen. Jugendliche Ein-
kleidungen in Briefe, und Geſpraͤche; die
Epiſoden in den Briefen, und die fremden
Eingaͤnge in den Geſpraͤchen: ſcheint mir ein
Putz, den die Philoſophiſche Wuͤrde nicht
braucht. Denkende Leſer fuͤhrt er von der
Betrachtung der Wahrheit ſelbſt ab: ſie muͤſ-
ſen ſich von den Spazziergaͤngen nachher wie-
der zuruͤck finden: und wer blos wegen die-
ſer Einkleidungen lieſet — fuͤr den hat Mo-
ſes nicht geſchrieben: eine Braut blos wegen
ihres Putzes lieben, iſt laͤcherlich. Der Weiſe
ſehe ſeinen Gegenſtand ſo helle als Moſes;
er zeige ihn im rechten Geſichtspunkte, er lei-
te die Jdeen natuͤrlich fort, er habe die Er-
laͤuterungen, und die Sprache in ſeiner Ge-
walt: ſo wird eine ſimple Abhandlung draus
werden, ohne Trockenheit und fremden
Schmuck; ſie wird ihren ganzen Zweck er-
reichen, einem Leſer, der Wahrheit ſucht und
liebt, ohne Zwang und Umwege, ein Geleits-
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[156/0160] mehr als eine aͤußere Mathematiſche Lehrart verſtehet, ſo wird jeder ſeine Entſchuldigung fuͤr Wahrheit annehmen. Jugendliche Ein- kleidungen in Briefe, und Geſpraͤche; die Epiſoden in den Briefen, und die fremden Eingaͤnge in den Geſpraͤchen: ſcheint mir ein Putz, den die Philoſophiſche Wuͤrde nicht braucht. Denkende Leſer fuͤhrt er von der Betrachtung der Wahrheit ſelbſt ab: ſie muͤſ- ſen ſich von den Spazziergaͤngen nachher wie- der zuruͤck finden: und wer blos wegen die- ſer Einkleidungen lieſet — fuͤr den hat Mo- ſes nicht geſchrieben: eine Braut blos wegen ihres Putzes lieben, iſt laͤcherlich. Der Weiſe ſehe ſeinen Gegenſtand ſo helle als Moſes; er zeige ihn im rechten Geſichtspunkte, er lei- te die Jdeen natuͤrlich fort, er habe die Er- laͤuterungen, und die Sprache in ſeiner Ge- walt: ſo wird eine ſimple Abhandlung draus werden, ohne Trockenheit und fremden Schmuck; ſie wird ihren ganzen Zweck er- reichen, einem Leſer, der Wahrheit ſucht und liebt, ohne Zwang und Umwege, ein Geleits- mann zu ſeyn — wozu? nicht zu lernen, ſon- dern ſelbſt zu denken. So ſind die Abhand- lun-

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 1. Riga, 1767, S. 156. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur01_1767/160>, abgerufen am 30.04.2024.