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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 1. Riga, 1767.

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Falltöne sind kürzer, und ihr Rhythmus ein-
förmig:
dahingegen sangen die Griechischen
Rhapsodisten ihre lange Gedichte in immer-
währenden
Hexametern: ohne Zweifel, weil
der Hexameter ihrem Ohr
auch selbst für
Gassenlieder nicht zu lang, und ihrer Spra-
che nicht zu Polymetrisch war: und weil ihre
Prosodie und Gesangweise jede Sylbe und Re-
gion gehörig bestimmte. Aber jetzt! wollt
ihr Griechische Hexameter lesen; lernet erst
Prosodie, um die Sylben in ihre rechte Re-
gionen bringen zu können. Jhr wollt Deutsche
Hexameter machen; machet sie so gut ihr
könnet, und alsdenn lasset dem ohngeachtet
die Versart drüber drücken, wie man es
Klopstock rieth, oder bittet, wie Kleist, dies
Sylbenmaas als Prose zu lesen. Könnet ihr
Hexameter deklamiren? Wohl! so werdet ihr
auch wissen, daß das die beste Deklamation
ist, die seine Füße am meisten verbirgt, und
nur alsdenn hören läßt, wenn sie die Mate-
rie unterstüzzen. Sehet! so wenig ist der
Hexameter und die Polymetrischen Sylben-
maaße unsrer Sprache natürlich: bei den
Griechen foderte ihn die singende Deklama-

tion,

Falltoͤne ſind kuͤrzer, und ihr Rhythmus ein-
foͤrmig:
dahingegen ſangen die Griechiſchen
Rhapſodiſten ihre lange Gedichte in immer-
waͤhrenden
Hexametern: ohne Zweifel, weil
der Hexameter ihrem Ohr
auch ſelbſt fuͤr
Gaſſenlieder nicht zu lang, und ihrer Spra-
che nicht zu Polymetriſch war: und weil ihre
Proſodie und Geſangweiſe jede Sylbe und Re-
gion gehoͤrig beſtimmte. Aber jetzt! wollt
ihr Griechiſche Hexameter leſen; lernet erſt
Proſodie, um die Sylben in ihre rechte Re-
gionen bringen zu koͤnnen. Jhr wollt Deutſche
Hexameter machen; machet ſie ſo gut ihr
koͤnnet, und alsdenn laſſet dem ohngeachtet
die Versart druͤber druͤcken, wie man es
Klopſtock rieth, oder bittet, wie Kleiſt, dies
Sylbenmaas als Proſe zu leſen. Koͤnnet ihr
Hexameter deklamiren? Wohl! ſo werdet ihr
auch wiſſen, daß das die beſte Deklamation
iſt, die ſeine Fuͤße am meiſten verbirgt, und
nur alsdenn hoͤren laͤßt, wenn ſie die Mate-
rie unterſtuͤzzen. Sehet! ſo wenig iſt der
Hexameter und die Polymetriſchen Sylben-
maaße unſrer Sprache natuͤrlich: bei den
Griechen foderte ihn die ſingende Deklama-

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[68/0072] Falltoͤne ſind kuͤrzer, und ihr Rhythmus ein- foͤrmig: dahingegen ſangen die Griechiſchen Rhapſodiſten ihre lange Gedichte in immer- waͤhrenden Hexametern: ohne Zweifel, weil der Hexameter ihrem Ohr auch ſelbſt fuͤr Gaſſenlieder nicht zu lang, und ihrer Spra- che nicht zu Polymetriſch war: und weil ihre Proſodie und Geſangweiſe jede Sylbe und Re- gion gehoͤrig beſtimmte. Aber jetzt! wollt ihr Griechiſche Hexameter leſen; lernet erſt Proſodie, um die Sylben in ihre rechte Re- gionen bringen zu koͤnnen. Jhr wollt Deutſche Hexameter machen; machet ſie ſo gut ihr koͤnnet, und alsdenn laſſet dem ohngeachtet die Versart druͤber druͤcken, wie man es Klopſtock rieth, oder bittet, wie Kleiſt, dies Sylbenmaas als Proſe zu leſen. Koͤnnet ihr Hexameter deklamiren? Wohl! ſo werdet ihr auch wiſſen, daß das die beſte Deklamation iſt, die ſeine Fuͤße am meiſten verbirgt, und nur alsdenn hoͤren laͤßt, wenn ſie die Mate- rie unterſtuͤzzen. Sehet! ſo wenig iſt der Hexameter und die Polymetriſchen Sylben- maaße unſrer Sprache natuͤrlich: bei den Griechen foderte ihn die ſingende Deklama- tion,

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 1. Riga, 1767, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur01_1767/72>, abgerufen am 29.04.2024.