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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767.

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Christ. Und im Zärtlichen sieht man K.
immer sein Herz schildern: Benoni, La-
zarus
und Cidli, Maria und Porcia;
Mirjam
und Debora; alles vortrefliche
und liebenswürdige Scenen. Ueberhaupt wür-
de unser Gespräch, wenn es die Schönheiten
aus einander sezzen wollte, sehr spät zu Ende
kommen; alles, alles ist bei K. in Theilen
schön sehr schön, nur im Ganzen nicht der
rechte Epische Geist.

Rabbi. Mir ging es eben so! So lange ich
las, hatte ich sehr selten eine Kleinigkeit wi-
der K. Hätten Sie mich damals um mein Ur-
theil gefragt; so würde ich schwerlich haben
richten können, weil ich mich ergözte, weil ich
empfand. Freilich aber kam mir nach[h]er
das Ganze --

Christ. Wir vergessen aber, daß dies
Ganze nur noch Fragment ist.

Rabbi. Nun dann! so wünsche ih ihm
eine solche Vollendung, als der So[h]ar vom
Liede der Lieder sagt: "an dem T[a]g, da es
"vollendet ist, ist die Vollkomm[en]heit und
"Schönheit selhst geboren!"



Von

Chriſt. Und im Zaͤrtlichen ſieht man K.
immer ſein Herz ſchildern: Benoni, La-
zarus
und Cidli, Maria und Porcia;
Mirjam
und Debora; alles vortrefliche
und liebenswuͤrdige Scenen. Ueberhaupt wuͤr-
de unſer Geſpraͤch, wenn es die Schoͤnheiten
aus einander ſezzen wollte, ſehr ſpaͤt zu Ende
kommen; alles, alles iſt bei K. in Theilen
ſchoͤn ſehr ſchoͤn, nur im Ganzen nicht der
rechte Epiſche Geiſt.

Rabbi. Mir ging es eben ſo! So lange ich
las, hatte ich ſehr ſelten eine Kleinigkeit wi-
der K. Haͤtten Sie mich damals um mein Ur-
theil gefragt; ſo wuͤrde ich ſchwerlich haben
richten koͤnnen, weil ich mich ergoͤzte, weil ich
empfand. Freilich aber kam mir nach[h]er
das Ganze —

Chriſt. Wir vergeſſen aber, daß dies
Ganze nur noch Fragment iſt.

Rabbi. Nun dann! ſo wuͤnſche ih ihm
eine ſolche Vollendung, als der So[h]ar vom
Liede der Lieder ſagt: „an dem T[a]g, da es
„vollendet iſt, iſt die Vollkomm[en]heit und
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[257/0089] Chriſt. Und im Zaͤrtlichen ſieht man K. immer ſein Herz ſchildern: Benoni, La- zarus und Cidli, Maria und Porcia; Mirjam und Debora; alles vortrefliche und liebenswuͤrdige Scenen. Ueberhaupt wuͤr- de unſer Geſpraͤch, wenn es die Schoͤnheiten aus einander ſezzen wollte, ſehr ſpaͤt zu Ende kommen; alles, alles iſt bei K. in Theilen ſchoͤn ſehr ſchoͤn, nur im Ganzen nicht der rechte Epiſche Geiſt. Rabbi. Mir ging es eben ſo! So lange ich las, hatte ich ſehr ſelten eine Kleinigkeit wi- der K. Haͤtten Sie mich damals um mein Ur- theil gefragt; ſo wuͤrde ich ſchwerlich haben richten koͤnnen, weil ich mich ergoͤzte, weil ich empfand. Freilich aber kam mir nachher das Ganze — Chriſt. Wir vergeſſen aber, daß dies Ganze nur noch Fragment iſt. Rabbi. Nun dann! ſo wuͤnſche ih ihm eine ſolche Vollendung, als der Sohar vom Liede der Lieder ſagt: „an dem Tag, da es „vollendet iſt, iſt die Vollkommenheit und „Schoͤnheit ſelhſt geboren!„ Von

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767, S. 257. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767/89>, abgerufen am 23.04.2024.