Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778.

Bild:
<< vorherige Seite

als im schönen Anschein. Schöner Anschein
kann manches werden, was gerade nicht schöne
Form und die tiefgefühlte, treue, nackte Wahr-
heit ist: zu dieser zu gelangen sind unstreitig jetzo
viel weniger Mittel als voraus. Winkelmann
hats unverbesserlich gesagt, was unter dem
schönen Griechischen Himmel, in ihrer Frei- und
Fröhlichkeit von Jugend auf, bei ihren unver-
hülleten Tänzen, Kampf- und Wettspielen das
Auge des Künstlers gewann. Nur die Formen
können wir treu, ganz, wahr, lebendig geben,
die sich uns also mittheilen, die durch den leben-
digen
Sinn in uns leben. Es ist bekannt, daß
einige der größten neuern Mahler nur immer ihre
geliebte Tochter, oder ihr Weib schilderten, un-
streitig, weil sie nichts anders in Seele und Sin-
nen besaßen. Raphael war reich an lebendigen
Gestalten, weil seine Neigung, sein warmes
Herz ihn hinriß und alle diese, erfühlt und genos-
sen, sein eigen waren. Er gerieth dabei auf
Abwege endete sich sein unersetzliches Leben --
und manche Trödelköpfe können es gar nicht be-
greifen, wie der himmlische Raphael irrdische
Mädchen geliebt habe? bekam er von ihnen nicht
seine Umrisse, seine warmen lebendigen Formen;
vom Himmel und kalten Statuen allein würde er
sie nicht bekommen haben. Und doch war Ra-
phael noch kein Praxiteles, kein Lisyppus, der

ohne
C 5

als im ſchoͤnen Anſchein. Schoͤner Anſchein
kann manches werden, was gerade nicht ſchoͤne
Form und die tiefgefuͤhlte, treue, nackte Wahr-
heit iſt: zu dieſer zu gelangen ſind unſtreitig jetzo
viel weniger Mittel als voraus. Winkelmann
hats unverbeſſerlich geſagt, was unter dem
ſchoͤnen Griechiſchen Himmel, in ihrer Frei- und
Froͤhlichkeit von Jugend auf, bei ihren unver-
huͤlleten Taͤnzen, Kampf- und Wettſpielen das
Auge des Kuͤnſtlers gewann. Nur die Formen
koͤnnen wir treu, ganz, wahr, lebendig geben,
die ſich uns alſo mittheilen, die durch den leben-
digen
Sinn in uns leben. Es iſt bekannt, daß
einige der groͤßten neuern Mahler nur immer ihre
geliebte Tochter, oder ihr Weib ſchilderten, un-
ſtreitig, weil ſie nichts anders in Seele und Sin-
nen beſaßen. Raphael war reich an lebendigen
Geſtalten, weil ſeine Neigung, ſein warmes
Herz ihn hinriß und alle dieſe, erfuͤhlt und genoſ-
ſen, ſein eigen waren. Er gerieth dabei auf
Abwege endete ſich ſein unerſetzliches Leben —
und manche Troͤdelkoͤpfe koͤnnen es gar nicht be-
greifen, wie der himmliſche Raphael irrdiſche
Maͤdchen geliebt habe? bekam er von ihnen nicht
ſeine Umriſſe, ſeine warmen lebendigen Formen;
vom Himmel und kalten Statuen allein wuͤrde er
ſie nicht bekommen haben. Und doch war Ra-
phael noch kein Praxiteles, kein Liſyppus, der

ohne
C 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0044" n="41"/>
als im &#x017F;cho&#x0364;nen <hi rendition="#fr">An&#x017F;chein.</hi> Scho&#x0364;ner An&#x017F;chein<lb/>
kann manches werden, was gerade nicht &#x017F;cho&#x0364;ne<lb/>
Form und die tiefgefu&#x0364;hlte, treue, nackte Wahr-<lb/>
heit i&#x017F;t: zu die&#x017F;er zu gelangen &#x017F;ind un&#x017F;treitig jetzo<lb/>
viel weniger Mittel als voraus. <hi rendition="#fr">Winkelmann</hi><lb/>
hats unverbe&#x017F;&#x017F;erlich ge&#x017F;agt, was unter dem<lb/>
&#x017F;cho&#x0364;nen Griechi&#x017F;chen Himmel, in ihrer Frei- und<lb/>
Fro&#x0364;hlichkeit von Jugend auf, bei ihren unver-<lb/>
hu&#x0364;lleten Ta&#x0364;nzen, Kampf- und Wett&#x017F;pielen das<lb/>
Auge des Ku&#x0364;n&#x017F;tlers gewann. Nur <hi rendition="#fr">die</hi> Formen<lb/>
ko&#x0364;nnen wir treu, ganz, wahr, lebendig geben,<lb/>
die &#x017F;ich uns al&#x017F;o mittheilen, die durch den <hi rendition="#fr">leben-<lb/>
digen</hi> Sinn in uns leben. Es i&#x017F;t bekannt, daß<lb/>
einige der gro&#x0364;ßten neuern Mahler nur immer ihre<lb/>
geliebte Tochter, oder ihr Weib &#x017F;childerten, un-<lb/>
&#x017F;treitig, weil &#x017F;ie nichts anders in Seele und Sin-<lb/>
nen be&#x017F;aßen. Raphael war reich an lebendigen<lb/>
Ge&#x017F;talten, weil &#x017F;eine Neigung, &#x017F;ein warmes<lb/>
Herz ihn hinriß und alle die&#x017F;e, erfu&#x0364;hlt und geno&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en, &#x017F;ein eigen waren. Er gerieth dabei auf<lb/>
Abwege endete &#x017F;ich &#x017F;ein uner&#x017F;etzliches Leben &#x2014;<lb/>
und manche Tro&#x0364;delko&#x0364;pfe ko&#x0364;nnen es gar nicht be-<lb/>
greifen, wie der himmli&#x017F;che Raphael irrdi&#x017F;che<lb/>
Ma&#x0364;dchen geliebt habe? bekam er von ihnen nicht<lb/>
&#x017F;eine Umri&#x017F;&#x017F;e, &#x017F;eine warmen lebendigen Formen;<lb/>
vom Himmel und kalten Statuen allein wu&#x0364;rde er<lb/>
&#x017F;ie nicht bekommen haben. Und doch war Ra-<lb/>
phael noch kein Praxiteles, kein Li&#x017F;yppus, der<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">C 5</fw><fw place="bottom" type="catch">ohne</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[41/0044] als im ſchoͤnen Anſchein. Schoͤner Anſchein kann manches werden, was gerade nicht ſchoͤne Form und die tiefgefuͤhlte, treue, nackte Wahr- heit iſt: zu dieſer zu gelangen ſind unſtreitig jetzo viel weniger Mittel als voraus. Winkelmann hats unverbeſſerlich geſagt, was unter dem ſchoͤnen Griechiſchen Himmel, in ihrer Frei- und Froͤhlichkeit von Jugend auf, bei ihren unver- huͤlleten Taͤnzen, Kampf- und Wettſpielen das Auge des Kuͤnſtlers gewann. Nur die Formen koͤnnen wir treu, ganz, wahr, lebendig geben, die ſich uns alſo mittheilen, die durch den leben- digen Sinn in uns leben. Es iſt bekannt, daß einige der groͤßten neuern Mahler nur immer ihre geliebte Tochter, oder ihr Weib ſchilderten, un- ſtreitig, weil ſie nichts anders in Seele und Sin- nen beſaßen. Raphael war reich an lebendigen Geſtalten, weil ſeine Neigung, ſein warmes Herz ihn hinriß und alle dieſe, erfuͤhlt und genoſ- ſen, ſein eigen waren. Er gerieth dabei auf Abwege endete ſich ſein unerſetzliches Leben — und manche Troͤdelkoͤpfe koͤnnen es gar nicht be- greifen, wie der himmliſche Raphael irrdiſche Maͤdchen geliebt habe? bekam er von ihnen nicht ſeine Umriſſe, ſeine warmen lebendigen Formen; vom Himmel und kalten Statuen allein wuͤrde er ſie nicht bekommen haben. Und doch war Ra- phael noch kein Praxiteles, kein Liſyppus, der ohne C 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778/44
Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778/44>, abgerufen am 29.03.2024.