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Herzl, Theodor: Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage. Leipzig u. a., 1896.

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Die Judenfrage besteht. Es wäre thöricht sie zu leugnen.
Sie ist ein verschlepptes Stück Mittelalter, mit dem die Culturvölker
auch heute beim besten Willen noch nicht fertig werden
konnten. Den grossmüthigen Willen zeigten sie ja, als sie uns
emancipirten. Die Judenfrage besteht überall, wo Juden in merklicher
Anzahl leben. Wo sie nicht ist, da wird sie durch hinwandernde
Juden eingeschleppt. Wir ziehen natürlich dahin,
wo man uns nicht verfolgt; durch unser Erscheinen entsteht
dann die Verfolgung. Das ist wahr, muss wahr bleiben, überall,
selbst in hochentwickelten Ländern - Beweis Frankreich -
so lange die Judenfrage nicht politisch gelöst ist. Die armen
Juden tragen jetzt den Antisemitismus nach England, sie haben
ihn schon nach Amerika gebracht.

Ich glaube, den Antisemitismus, der eine vielfach complicirte
Bewegung ist, zu verstehen. Ich betrachte diese Bewegung
als Jude, aber ohne Hass und Furcht. Ich glaube zu
erkennen, was im Antisemitismus roher Scherz, gemeiner Brotneid,
angeerbtes Vorurtheil, religiöse Unduldsamkeit - aber auch
was darin vermeintliche Nothwehr ist. Ich halte die Judenfrage
weder für eine sociale, noch für eine religiöse, wenn sie sich
auch noch so und anders färbt. Sie ist eine nationale Frage, und
um sie zu lösen, müssen wir sie vor Allem zu einer politischen
Weltfrage machen, die im Rathe der Culturvölker zu regeln
sein wird.

Wir sind ein Volk, Ein Volk.

Wir haben überall ehrlich versucht, in der uns umgebenden
Volksgemeinschaft unterzugehen und nur den Glauben
unserer Väter zu bewahren. Man lässt es nicht zu. Vergebens
sind wir treue und an manchen Orten sogar überschwängliche
Patrioten, vergebens bringen wir dieselben Opfer an Gut und
Blut wie unsere Mitbürger, vergebens bemühen wir uns den
Ruhm unserer Vaterländer in Künsten und Wissenschaften,
ihren Reichthum durch Handel und Verkehr zu erhöhen. In
unseren Vaterländern, in denen wir ja auch schon seit Jahrhunderten
wohnen, werden wir als Fremdlinge ausgeschrieen;
oft von Solchen, deren Geschlechter noch nicht im Lande
waren, als unsere Väter da schon seufzten. Wer der Fremde
im Lande ist, das kann die Mehrheit entscheiden; es ist eine
Machtfrage, wie Alles im Völkerverkehre. Ich gebe nichts von
unserem ersessenen guten Recht preis, wenn ich das als ohnehin
mandatloser Einzelner sage. Im jetzigen Zustande der Welt
und wohl noch in unabsehbarer Zeit geht Macht vor Recht.
Wir sind also vergebens überall brave Patrioten, wie es die
Hugenotten waren, die man zu wandern zwang. Wenn man uns
in Ruhe liesse ...

Die Judenfrage besteht. Es wäre thöricht sie zu leugnen.
Sie ist ein verschlepptes Stück Mittelalter, mit dem die Culturvölker
auch heute beim besten Willen noch nicht fertig werden
konnten. Den grossmüthigen Willen zeigten sie ja, als sie uns
emancipirten. Die Judenfrage besteht überall, wo Juden in merklicher
Anzahl leben. Wo sie nicht ist, da wird sie durch hinwandernde
Juden eingeschleppt. Wir ziehen natürlich dahin,
wo man uns nicht verfolgt; durch unser Erscheinen entsteht
dann die Verfolgung. Das ist wahr, muss wahr bleiben, überall,
selbst in hochentwickelten Ländern – Beweis Frankreich –
so lange die Judenfrage nicht politisch gelöst ist. Die armen
Juden tragen jetzt den Antisemitismus nach England, sie haben
ihn schon nach Amerika gebracht.

Ich glaube, den Antisemitismus, der eine vielfach complicirte
Bewegung ist, zu verstehen. Ich betrachte diese Bewegung
als Jude, aber ohne Hass und Furcht. Ich glaube zu
erkennen, was im Antisemitismus roher Scherz, gemeiner Brotneid,
angeerbtes Vorurtheil, religiöse Unduldsamkeit – aber auch
was darin vermeintliche Nothwehr ist. Ich halte die Judenfrage
weder für eine sociale, noch für eine religiöse, wenn sie sich
auch noch so und anders färbt. Sie ist eine nationale Frage, und
um sie zu lösen, müssen wir sie vor Allem zu einer politischen
Weltfrage machen, die im Rathe der Culturvölker zu regeln
sein wird.

Wir sind ein Volk, Ein Volk.

Wir haben überall ehrlich versucht, in der uns umgebenden
Volksgemeinschaft unterzugehen und nur den Glauben
unserer Väter zu bewahren. Man lässt es nicht zu. Vergebens
sind wir treue und an manchen Orten sogar überschwängliche
Patrioten, vergebens bringen wir dieselben Opfer an Gut und
Blut wie unsere Mitbürger, vergebens bemühen wir uns den
Ruhm unserer Vaterländer in Künsten und Wissenschaften,
ihren Reichthum durch Handel und Verkehr zu erhöhen. In
unseren Vaterländern, in denen wir ja auch schon seit Jahrhunderten
wohnen, werden wir als Fremdlinge ausgeschrieen;
oft von Solchen, deren Geschlechter noch nicht im Lande
waren, als unsere Väter da schon seufzten. Wer der Fremde
im Lande ist, das kann die Mehrheit entscheiden; es ist eine
Machtfrage, wie Alles im Völkerverkehre. Ich gebe nichts von
unserem ersessenen guten Recht preis, wenn ich das als ohnehin
mandatloser Einzelner sage. Im jetzigen Zustande der Welt
und wohl noch in unabsehbarer Zeit geht Macht vor Recht.
Wir sind also vergebens überall brave Patrioten, wie es die
Hugenotten waren, die man zu wandern zwang. Wenn man uns
in Ruhe liesse ...

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Zitationshilfe: Herzl, Theodor: Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage. Leipzig u. a., 1896, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herzl_judenstaat_1896/11>, abgerufen am 29.03.2024.