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Herzl, Theodor: Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage. Leipzig u. a., 1896.

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Wie in der Verwaltung eine straffe Centralisirung, ist in
den Ortsgruppen die vollste Autonomie das Princip. Nur so
kann die Verpflanzung schmerzlos vor sich gehen.

Ich stelle mir das nicht leichter vor, als es ist; man darf
es sich auch nicht schwerer vorstellen.



Der Zug des Mittelstandes.

Der Mittelstand wird unwillkürlich von der Bewegung mit
hinübergezogen. Die Einen haben ihre Söhne als Beamte der
Society oder Angestellte der Company drüben. Juristen, Mediciner,
Techniker aller Zweige, junge Kaufleute, alle jüdischen Wegsucher,
die jetzt aus der Bedrängniss ihrer Vaterländer hinaus
in andere Welttheile erwerben gehen, werden sich auf dem
hoffnungsvollen Boden versammeln. Andere haben ihre Töchter
an solche aufstrebende Leute verheiratet. Dann lässt sich von
unseren jungen Leuten der eine seine Braut, der andere seine
Eltern und Geschwister nachkommen. In neuen Culturen heiratet
man früh. Das kann der allgemeinen Sittlichkeit nur zu Statten
kommen, und wir erhalten kräftigen Nachwuchs; nicht jene
schwachen Kinder spätverheirateter Väter, die zuerst ihre
Energie im Lebenskampf abgenützt haben.

Im Mittelstande zieht jeder unserer Auswanderer andere
nach sich.

Den Muthigsten gehört natürlich das Beste von der
neuen Welt.

Es scheint nun freilich, als wäre hier die grösste Schwierigkeit
des Planes.

Selbst wenn es uns gelingt, die Judenfrage in einer ernsten
Weise zur Weltdiscussion zu stellen -

selbst wenn aus dieser Erörterung auf das Bestimmteste
hervorgeht, dass der Judenstaat ein Weltbedürfniss ist -

selbst wenn wir durch die Unterstützung der Mächte die
Souveränetät eines Territoriums erlangten:

wie bringen wir die Judenmassen ohne Zwang aus ihren
jetzigen Wohnorten in dieses neue Land?

Die Wanderung ist doch immer als eine freie gedacht?



Das Phänomen der Menge.

Ein mühsames Anfachen der Bewegung wird wohl kaum
nöthig sein. Die Antisemiten besorgen das schon für uns. Sie

Wie in der Verwaltung eine straffe Centralisirung, ist in
den Ortsgruppen die vollste Autonomie das Princip. Nur so
kann die Verpflanzung schmerzlos vor sich gehen.

Ich stelle mir das nicht leichter vor, als es ist; man darf
es sich auch nicht schwerer vorstellen.



Der Zug des Mittelstandes.

Der Mittelstand wird unwillkürlich von der Bewegung mit
hinübergezogen. Die Einen haben ihre Söhne als Beamte der
Society oder Angestellte der Company drüben. Juristen, Mediciner,
Techniker aller Zweige, junge Kaufleute, alle jüdischen Wegsucher,
die jetzt aus der Bedrängniss ihrer Vaterländer hinaus
in andere Welttheile erwerben gehen, werden sich auf dem
hoffnungsvollen Boden versammeln. Andere haben ihre Töchter
an solche aufstrebende Leute verheiratet. Dann lässt sich von
unseren jungen Leuten der eine seine Braut, der andere seine
Eltern und Geschwister nachkommen. In neuen Culturen heiratet
man früh. Das kann der allgemeinen Sittlichkeit nur zu Statten
kommen, und wir erhalten kräftigen Nachwuchs; nicht jene
schwachen Kinder spätverheirateter Väter, die zuerst ihre
Energie im Lebenskampf abgenützt haben.

Im Mittelstande zieht jeder unserer Auswanderer andere
nach sich.

Den Muthigsten gehört natürlich das Beste von der
neuen Welt.

Es scheint nun freilich, als wäre hier die grösste Schwierigkeit
des Planes.

Selbst wenn es uns gelingt, die Judenfrage in einer ernsten
Weise zur Weltdiscussion zu stellen –

selbst wenn aus dieser Erörterung auf das Bestimmteste
hervorgeht, dass der Judenstaat ein Weltbedürfniss ist –

selbst wenn wir durch die Unterstützung der Mächte die
Souveränetät eines Territoriums erlangten:

wie bringen wir die Judenmassen ohne Zwang aus ihren
jetzigen Wohnorten in dieses neue Land?

Die Wanderung ist doch immer als eine freie gedacht?



Das Phänomen der Menge.

Ein mühsames Anfachen der Bewegung wird wohl kaum
nöthig sein. Die Antisemiten besorgen das schon für uns. Sie

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[0059] Wie in der Verwaltung eine straffe Centralisirung, ist in den Ortsgruppen die vollste Autonomie das Princip. Nur so kann die Verpflanzung schmerzlos vor sich gehen. Ich stelle mir das nicht leichter vor, als es ist; man darf es sich auch nicht schwerer vorstellen. Der Zug des Mittelstandes. Der Mittelstand wird unwillkürlich von der Bewegung mit hinübergezogen. Die Einen haben ihre Söhne als Beamte der Society oder Angestellte der Company drüben. Juristen, Mediciner, Techniker aller Zweige, junge Kaufleute, alle jüdischen Wegsucher, die jetzt aus der Bedrängniss ihrer Vaterländer hinaus in andere Welttheile erwerben gehen, werden sich auf dem hoffnungsvollen Boden versammeln. Andere haben ihre Töchter an solche aufstrebende Leute verheiratet. Dann lässt sich von unseren jungen Leuten der eine seine Braut, der andere seine Eltern und Geschwister nachkommen. In neuen Culturen heiratet man früh. Das kann der allgemeinen Sittlichkeit nur zu Statten kommen, und wir erhalten kräftigen Nachwuchs; nicht jene schwachen Kinder spätverheirateter Väter, die zuerst ihre Energie im Lebenskampf abgenützt haben. Im Mittelstande zieht jeder unserer Auswanderer andere nach sich. Den Muthigsten gehört natürlich das Beste von der neuen Welt. Es scheint nun freilich, als wäre hier die grösste Schwierigkeit des Planes. Selbst wenn es uns gelingt, die Judenfrage in einer ernsten Weise zur Weltdiscussion zu stellen – selbst wenn aus dieser Erörterung auf das Bestimmteste hervorgeht, dass der Judenstaat ein Weltbedürfniss ist – selbst wenn wir durch die Unterstützung der Mächte die Souveränetät eines Territoriums erlangten: wie bringen wir die Judenmassen ohne Zwang aus ihren jetzigen Wohnorten in dieses neue Land? Die Wanderung ist doch immer als eine freie gedacht? Das Phänomen der Menge. Ein mühsames Anfachen der Bewegung wird wohl kaum nöthig sein. Die Antisemiten besorgen das schon für uns. Sie

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Zitationshilfe: Herzl, Theodor: Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage. Leipzig u. a., 1896, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herzl_judenstaat_1896/59>, abgerufen am 16.04.2024.