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Herzl, Theodor: Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage. Leipzig u. a., 1896.

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können. Und wenn sich auch am Feierabend herausstellt, dass
sie mit all der braven Arbeit nur 1 fl. 50 kr. oder 3 Francs
oder was Sie wollen, verdient haben, werden sie doch mit
Hoffnung in den nächsten Tag blicken, der vielleicht besser
sein wird.

Wir haben ihnen die Hoffnung geschenkt.

Will man wissen, wo wir die Bedürfnisse hernehmen, die
wir für die Märkte brauchen? Muss das wirklich noch gesagt
werden?

Ich zeigte früher, dass durch die Assistance par le travail
der fünfzehnfache Verdienst erzeugt wird. Für eine Million
fünfzehn Millionen, für eine Milliarde fünfzehn Milliarden.

Ja, ob dies im Grossen auch so richtig ist wie im Kleinen?
Der Ertrag des Capitales hat doch in der Höhe eine abnehmende
Progression? Ja, des schlafenden, feige verkrochenen
Capitals, nicht der des arbeitenden. Das arbeitende Capital hat
sogar in der Höhe eine furchtbar zunehmende Ertragskraft.
Da steckt ja die sociale Frage.

Ob das richtig ist, was ich sage? Ich rufe dafür die
reichsten Juden als Zeugen auf. Warum betreiben diese so
viele verschiedene Industrien? Warum schicken sie Leute unter
die Erde, um für mageren Lohn unter entsetzlichen Gefahren
Kohle heraufzuschaffen. Ich denke mir das nicht angenehm,
auch nicht für die Grubenbesitzer. Ich glaube ja nicht an die
Herzlosigkeit der Capitalisten, und stelle mich nicht als ob ich
es glaubte. Ich will ja nicht hetzen, sondern versöhnen.

Brauche ich das Phänomen der Menge, und wie man sie
nach beliebigen Punkten zieht, auch noch an den frommen
Wanderungen zu erklären?

Ich möchte Niemandes heilige Empfindungen durch Worte
verletzen, die falsch ausgelegt werden könnten.

Nur kurz deute ich an, was in der mohammedanischen
Welt der Zug der Pilger nach Mekka ist, in der katholischen
Welt Lourdes und so zahllose andere Punkte, von wo Menschen
durch ihren Glauben getröstet heimkehren, und der heilige Rock
zu Trier. So werden auch wir dem tiefen Glaubensbedürfnisse
unserer Leute Zielpunkte errichten. Unsere Geistlichen werden
uns ja zuerst verstehen, und mit uns gehen.

Wir wollen drüben jeden nach seiner Facon selig werden
lassen. Auch und vor allem unsere theuren Freidenker, unser
unsterbliches Heer, das für die Menschheit immer neue Gebiete
erobert.

Auf Niemanden soll ein anderer Zwang ausgeübt werden,
als der zur Erhaltung des Staates und der Ordnung nöthige.
Und dieses Nöthige wird nicht von der Willkür einer oder

können. Und wenn sich auch am Feierabend herausstellt, dass
sie mit all der braven Arbeit nur 1 fl. 50 kr. oder 3 Francs
oder was Sie wollen, verdient haben, werden sie doch mit
Hoffnung in den nächsten Tag blicken, der vielleicht besser
sein wird.

Wir haben ihnen die Hoffnung geschenkt.

Will man wissen, wo wir die Bedürfnisse hernehmen, die
wir für die Märkte brauchen? Muss das wirklich noch gesagt
werden?

Ich zeigte früher, dass durch die Assistance par le travail
der fünfzehnfache Verdienst erzeugt wird. Für eine Million
fünfzehn Millionen, für eine Milliarde fünfzehn Milliarden.

Ja, ob dies im Grossen auch so richtig ist wie im Kleinen?
Der Ertrag des Capitales hat doch in der Höhe eine abnehmende
Progression? Ja, des schlafenden, feige verkrochenen
Capitals, nicht der des arbeitenden. Das arbeitende Capital hat
sogar in der Höhe eine furchtbar zunehmende Ertragskraft.
Da steckt ja die sociale Frage.

Ob das richtig ist, was ich sage? Ich rufe dafür die
reichsten Juden als Zeugen auf. Warum betreiben diese so
viele verschiedene Industrien? Warum schicken sie Leute unter
die Erde, um für mageren Lohn unter entsetzlichen Gefahren
Kohle heraufzuschaffen. Ich denke mir das nicht angenehm,
auch nicht für die Grubenbesitzer. Ich glaube ja nicht an die
Herzlosigkeit der Capitalisten, und stelle mich nicht als ob ich
es glaubte. Ich will ja nicht hetzen, sondern versöhnen.

Brauche ich das Phänomen der Menge, und wie man sie
nach beliebigen Punkten zieht, auch noch an den frommen
Wanderungen zu erklären?

Ich möchte Niemandes heilige Empfindungen durch Worte
verletzen, die falsch ausgelegt werden könnten.

Nur kurz deute ich an, was in der mohammedanischen
Welt der Zug der Pilger nach Mekka ist, in der katholischen
Welt Lourdes und so zahllose andere Punkte, von wo Menschen
durch ihren Glauben getröstet heimkehren, und der heilige Rock
zu Trier. So werden auch wir dem tiefen Glaubensbedürfnisse
unserer Leute Zielpunkte errichten. Unsere Geistlichen werden
uns ja zuerst verstehen, und mit uns gehen.

Wir wollen drüben jeden nach seiner Façon selig werden
lassen. Auch und vor allem unsere theuren Freidenker, unser
unsterbliches Heer, das für die Menschheit immer neue Gebiete
erobert.

Auf Niemanden soll ein anderer Zwang ausgeübt werden,
als der zur Erhaltung des Staates und der Ordnung nöthige.
Und dieses Nöthige wird nicht von der Willkür einer oder

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Zitationshilfe: Herzl, Theodor: Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage. Leipzig u. a., 1896, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herzl_judenstaat_1896/62>, abgerufen am 25.04.2024.