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Herzl, Theodor: Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage. Leipzig u. a., 1896.

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wir ja, sehen wir ja. Colonien fallen vom Mutterlande ab, Vasallen
reissen sich vom Suzerän los, neuerschlossene Territorien
werden gleich als freie Staaten gegründet. Der Judenstaat ist
allerdings als eine ganz eigenthümliche Neubildung auf noch unbestimmtem
Territorium gedacht. Aber nicht die Länderstrecken
sind der Staat, sondern die durch eine Souveränetät zusammengefassten
Menschen sind es.

Das Volk ist die persönliche, das Land die dingliche Grundlage
des Staates. Und von diesen beiden Grundlagen ist die persönliche
die wichtigere. Es gibt zum Beispiel eine Souveränetät
ohne dingliche Grundlage, und sie ist sogar die geachtetste der
Erde: es ist die Souveränetät des Papstes.

In der Wissenschaft vom Staate herrscht gegenwärtig die
Theorie der Vernunftnothwendigkeit. Diese Theorie reicht aus,
um die Entstehung des Staates zu rechtfertigen, und sie kann
nicht geschichtlich widerlegt werden, wie die Vertragstheorie.
So weit es sich um die Entstehung des Judenstaates handelt,
befinde ich mich in dieser Schrift vollkommen auf dem Boden
der Vernunftnothwendigkeits-Theorie. Diese weicht aber dem
Rechtsgrunde des Staates aus. Der modernen Anschauung entsprechen
die Theorie der göttlichen Stiftung, die der Uebermacht,
die Patriarchal-, Patrimonial- und Vertragstheorie nicht.
Der Rechtsgrund des Staates wird bald zu sehr in den Menschen
(Uebermachts-, Patriarchal- und Vertragstheorie), bald rein über
den Menschen (göttliche Stiftung), bald unter den Menschen
(dingliche Patrimonialtheorie) gesucht. Die Vernunftnothwendigkeit
lässt die Frage bequem oder vorsichtig unbeantwortet. Eine
Frage, mit der sich die grössten Rechtsphilosophen aller Zeiten
so tief beschäftigt haben, kann jedoch nicht ganz müssig sein.
Thatsächlich liegt im Staat eine Mischung von Menschlichem und
Uebermenschlichem vor. Für das zuweilen drückende Verhältniss,
in welchem die Regierten zu den Regierenden stehen, ist ein
Rechtsgrund unerlässlich. Ich glaube, er kann in der "negotiorum
gestio" gefunden werden. Wobei man sich die Gesammtheit
der Bürger als Dominus negotiorum und die Regierung als den
Gestor zu denken hat.

Der wunderbare Rechtssinn der Römer hat in der negotiorum
gestio ein edles Meisterwerk geschaffen. Wenn das Gut
eines Behinderten in Gefahr ist, darf Jeder hinzutreten und es
retten. Das ist der Gestor, der Führer fremder Geschäfte. Er
hat keinen Auftrag, das heisst keinen menschlichen Auftrag.
Sein Auftrag ist ihm von einer höheren Nothwendigkeit ertheilt.
Diese höhere Nothwendigkeit kann für den Staat auf verschiedene
Weise formulirt werden und wird auch auf den einzelnen

wir ja, sehen wir ja. Colonien fallen vom Mutterlande ab, Vasallen
reissen sich vom Suzerän los, neuerschlossene Territorien
werden gleich als freie Staaten gegründet. Der Judenstaat ist
allerdings als eine ganz eigenthümliche Neubildung auf noch unbestimmtem
Territorium gedacht. Aber nicht die Länderstrecken
sind der Staat, sondern die durch eine Souveränetät zusammengefassten
Menschen sind es.

Das Volk ist die persönliche, das Land die dingliche Grundlage
des Staates. Und von diesen beiden Grundlagen ist die persönliche
die wichtigere. Es gibt zum Beispiel eine Souveränetät
ohne dingliche Grundlage, und sie ist sogar die geachtetste der
Erde: es ist die Souveränetät des Papstes.

In der Wissenschaft vom Staate herrscht gegenwärtig die
Theorie der Vernunftnothwendigkeit. Diese Theorie reicht aus,
um die Entstehung des Staates zu rechtfertigen, und sie kann
nicht geschichtlich widerlegt werden, wie die Vertragstheorie.
So weit es sich um die Entstehung des Judenstaates handelt,
befinde ich mich in dieser Schrift vollkommen auf dem Boden
der Vernunftnothwendigkeits-Theorie. Diese weicht aber dem
Rechtsgrunde des Staates aus. Der modernen Anschauung entsprechen
die Theorie der göttlichen Stiftung, die der Uebermacht,
die Patriarchal-, Patrimonial- und Vertragstheorie nicht.
Der Rechtsgrund des Staates wird bald zu sehr in den Menschen
(Uebermachts-, Patriarchal- und Vertragstheorie), bald rein über
den Menschen (göttliche Stiftung), bald unter den Menschen
(dingliche Patrimonialtheorie) gesucht. Die Vernunftnothwendigkeit
lässt die Frage bequem oder vorsichtig unbeantwortet. Eine
Frage, mit der sich die grössten Rechtsphilosophen aller Zeiten
so tief beschäftigt haben, kann jedoch nicht ganz müssig sein.
Thatsächlich liegt im Staat eine Mischung von Menschlichem und
Uebermenschlichem vor. Für das zuweilen drückende Verhältniss,
in welchem die Regierten zu den Regierenden stehen, ist ein
Rechtsgrund unerlässlich. Ich glaube, er kann in der „negotiorum
gestio“ gefunden werden. Wobei man sich die Gesammtheit
der Bürger als Dominus negotiorum und die Regierung als den
Gestor zu denken hat.

Der wunderbare Rechtssinn der Römer hat in der negotiorum
gestio ein edles Meisterwerk geschaffen. Wenn das Gut
eines Behinderten in Gefahr ist, darf Jeder hinzutreten und es
retten. Das ist der Gestor, der Führer fremder Geschäfte. Er
hat keinen Auftrag, das heisst keinen menschlichen Auftrag.
Sein Auftrag ist ihm von einer höheren Nothwendigkeit ertheilt.
Diese höhere Nothwendigkeit kann für den Staat auf verschiedene
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Zitationshilfe: Herzl, Theodor: Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage. Leipzig u. a., 1896, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herzl_judenstaat_1896/68>, abgerufen am 25.04.2024.