Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Heyse, Paul: Der Weinhüter von Meran. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 173–319. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

jetzt, ob sie noch eine Frage zu thun oder einen Einwand vorzubringen hätte. Sie aber saß mit geschloffenen Augen ganz still auf dem Bette, den Kopf an die Wand zurückgelehnt, die Hände im Schooß gefaltet. Die ängstliche Wildheit war aus ihrem Gesicht gewichen, die Stirn unter dem wirren blonden Haar geglättet und heiter, ihre Brust athmete friedlich. Nach einer kleinen Weile neigte sich das Haupt auf die Schulter, und die verschlungenen Hände lös'ten sich. Die Erzählung des kleinen Seelsorgers hatte sie wie ein Wiegenlied eingelullt, und sie war nach den Mühen und Beschwerden der letzten Zeit zum ersten Mal wieder in einen tiefen, traumlosen Schlaf gesunken.

Der Hülfspriester stand auf, mit zweifelhafter Miene; eine solche Wirkung seiner Mahnrede hatte er nicht erwartet. Es fiel ihm jetzt erst wieder aufs Gewissen, daß er einem armen gestörten Wesen, das schwerlich ganz zurechnungsfähig sei, das bedenkliche Geheimniß in die Hand geliefert habe. Und sie hatte nicht einmal ihr Gelübde, zu schweigen, selber abgelegt und nur zu Allem genickt mit zerstreutem Blick und vielleicht tauben Ohren. Aber was geschehen, war nicht zu ändern, und so Viel wenigstens gewonnen, daß sie schlief und also für diese Nacht kein Unheil stiften konnte. Morgen ließ sich dann weiter sorgen.

Leise trat er von dem Bette zurück und ging

jetzt, ob sie noch eine Frage zu thun oder einen Einwand vorzubringen hätte. Sie aber saß mit geschloffenen Augen ganz still auf dem Bette, den Kopf an die Wand zurückgelehnt, die Hände im Schooß gefaltet. Die ängstliche Wildheit war aus ihrem Gesicht gewichen, die Stirn unter dem wirren blonden Haar geglättet und heiter, ihre Brust athmete friedlich. Nach einer kleinen Weile neigte sich das Haupt auf die Schulter, und die verschlungenen Hände lös'ten sich. Die Erzählung des kleinen Seelsorgers hatte sie wie ein Wiegenlied eingelullt, und sie war nach den Mühen und Beschwerden der letzten Zeit zum ersten Mal wieder in einen tiefen, traumlosen Schlaf gesunken.

Der Hülfspriester stand auf, mit zweifelhafter Miene; eine solche Wirkung seiner Mahnrede hatte er nicht erwartet. Es fiel ihm jetzt erst wieder aufs Gewissen, daß er einem armen gestörten Wesen, das schwerlich ganz zurechnungsfähig sei, das bedenkliche Geheimniß in die Hand geliefert habe. Und sie hatte nicht einmal ihr Gelübde, zu schweigen, selber abgelegt und nur zu Allem genickt mit zerstreutem Blick und vielleicht tauben Ohren. Aber was geschehen, war nicht zu ändern, und so Viel wenigstens gewonnen, daß sie schlief und also für diese Nacht kein Unheil stiften konnte. Morgen ließ sich dann weiter sorgen.

Leise trat er von dem Bette zurück und ging

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="chapter" n="3">
        <p><pb facs="#f0134"/>
jetzt, ob sie noch eine Frage zu thun oder einen Einwand vorzubringen hätte. Sie aber     saß mit geschloffenen Augen ganz still auf dem Bette, den Kopf an die Wand zurückgelehnt, die     Hände im Schooß gefaltet. Die ängstliche Wildheit war aus ihrem Gesicht gewichen, die Stirn     unter dem wirren blonden Haar geglättet und heiter, ihre Brust athmete friedlich. Nach einer     kleinen Weile neigte sich das Haupt auf die Schulter, und die verschlungenen Hände lös'ten sich.     Die Erzählung des kleinen Seelsorgers hatte sie wie ein Wiegenlied eingelullt, und sie war nach     den Mühen und Beschwerden der letzten Zeit zum ersten Mal wieder in einen tiefen, traumlosen     Schlaf gesunken.</p><lb/>
        <p>Der Hülfspriester stand auf, mit zweifelhafter Miene; eine solche Wirkung seiner Mahnrede     hatte er nicht erwartet. Es fiel ihm jetzt erst wieder aufs Gewissen, daß er einem armen     gestörten Wesen, das schwerlich ganz zurechnungsfähig sei, das bedenkliche Geheimniß in die Hand     geliefert habe. Und sie hatte nicht einmal ihr Gelübde, zu schweigen, selber abgelegt und nur zu     Allem genickt mit zerstreutem Blick und vielleicht tauben Ohren. Aber was geschehen, war nicht     zu ändern, und so Viel wenigstens gewonnen, daß sie schlief und also für diese Nacht kein Unheil     stiften konnte. Morgen ließ sich dann weiter sorgen.</p><lb/>
        <p>Leise trat er von dem Bette zurück und ging<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0134] jetzt, ob sie noch eine Frage zu thun oder einen Einwand vorzubringen hätte. Sie aber saß mit geschloffenen Augen ganz still auf dem Bette, den Kopf an die Wand zurückgelehnt, die Hände im Schooß gefaltet. Die ängstliche Wildheit war aus ihrem Gesicht gewichen, die Stirn unter dem wirren blonden Haar geglättet und heiter, ihre Brust athmete friedlich. Nach einer kleinen Weile neigte sich das Haupt auf die Schulter, und die verschlungenen Hände lös'ten sich. Die Erzählung des kleinen Seelsorgers hatte sie wie ein Wiegenlied eingelullt, und sie war nach den Mühen und Beschwerden der letzten Zeit zum ersten Mal wieder in einen tiefen, traumlosen Schlaf gesunken. Der Hülfspriester stand auf, mit zweifelhafter Miene; eine solche Wirkung seiner Mahnrede hatte er nicht erwartet. Es fiel ihm jetzt erst wieder aufs Gewissen, daß er einem armen gestörten Wesen, das schwerlich ganz zurechnungsfähig sei, das bedenkliche Geheimniß in die Hand geliefert habe. Und sie hatte nicht einmal ihr Gelübde, zu schweigen, selber abgelegt und nur zu Allem genickt mit zerstreutem Blick und vielleicht tauben Ohren. Aber was geschehen, war nicht zu ändern, und so Viel wenigstens gewonnen, daß sie schlief und also für diese Nacht kein Unheil stiften konnte. Morgen ließ sich dann weiter sorgen. Leise trat er von dem Bette zurück und ging

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T11:27:07Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T11:27:07Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/heyse_weinhueter_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/heyse_weinhueter_1910/134
Zitationshilfe: Heyse, Paul: Der Weinhüter von Meran. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 173–319. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heyse_weinhueter_1910/134>, abgerufen am 26.04.2024.