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Heyse, Paul: Der Weinhüter von Meran. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 173–319. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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zu schauen. Stieg doch die Anna Hirzer hinauf, die Heilige, des Andree Pathe. Was wird sie dem verirrten Paar, das in Schmach und Sünde wieder heimgekommen ist, zu sagen haben? Will sie mit ihrer Heiligkeit die armen Sünder gegen geistliches und weltliches Gericht beschützen, oder selbst das Wort der Verdammniß über sie aussprechen?

So raunten die Bauern und ihre Weiber unter einander. Die Anna aber sah nicht rechts noch links, erwiderte auch die Grüße kaum mit einem leisen Kopfnicken, sondern ging die steinige Fahrstraße hinan, als wäre sie schon ein abgeschiedener Geist, der weder irdische Beschwerde fühlen, noch Menschenrede achten könne. Dicht hinter ihr schritt die Rosine mit dem stillen Gesicht, das Alle gewohnt waren. Nur war es heute so bleich, daß mitleidige Weiber es sich mit Achselzucken und Kopfschütteln zeigten, während das Gesicht der Alten von einem frischen Roth angehaucht war. Sie nahm sich auch nicht die Zeit, auf der halben Höhe auszurasten, wo eine Bank am Felsen stand. Es war, als triebe sie die Ahnung vorwärts, daß sie keine Minute zu verlieren habe.

Und freilich hatte die Nacht Unheil gebraut und gegen Morgen ein drohendes Gewitter um das kleine Haus auf dem Küchelberg zusammengezogen. Bald nach Mitternacht war der Schläfer vor der Thür aufgewacht, von der Kälte geschüttelt. Er hatte sich sacht in den Flur geschlichen, und als er sein armes Weib

zu schauen. Stieg doch die Anna Hirzer hinauf, die Heilige, des Andree Pathe. Was wird sie dem verirrten Paar, das in Schmach und Sünde wieder heimgekommen ist, zu sagen haben? Will sie mit ihrer Heiligkeit die armen Sünder gegen geistliches und weltliches Gericht beschützen, oder selbst das Wort der Verdammniß über sie aussprechen?

So raunten die Bauern und ihre Weiber unter einander. Die Anna aber sah nicht rechts noch links, erwiderte auch die Grüße kaum mit einem leisen Kopfnicken, sondern ging die steinige Fahrstraße hinan, als wäre sie schon ein abgeschiedener Geist, der weder irdische Beschwerde fühlen, noch Menschenrede achten könne. Dicht hinter ihr schritt die Rosine mit dem stillen Gesicht, das Alle gewohnt waren. Nur war es heute so bleich, daß mitleidige Weiber es sich mit Achselzucken und Kopfschütteln zeigten, während das Gesicht der Alten von einem frischen Roth angehaucht war. Sie nahm sich auch nicht die Zeit, auf der halben Höhe auszurasten, wo eine Bank am Felsen stand. Es war, als triebe sie die Ahnung vorwärts, daß sie keine Minute zu verlieren habe.

Und freilich hatte die Nacht Unheil gebraut und gegen Morgen ein drohendes Gewitter um das kleine Haus auf dem Küchelberg zusammengezogen. Bald nach Mitternacht war der Schläfer vor der Thür aufgewacht, von der Kälte geschüttelt. Er hatte sich sacht in den Flur geschlichen, und als er sein armes Weib

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[0141] zu schauen. Stieg doch die Anna Hirzer hinauf, die Heilige, des Andree Pathe. Was wird sie dem verirrten Paar, das in Schmach und Sünde wieder heimgekommen ist, zu sagen haben? Will sie mit ihrer Heiligkeit die armen Sünder gegen geistliches und weltliches Gericht beschützen, oder selbst das Wort der Verdammniß über sie aussprechen? So raunten die Bauern und ihre Weiber unter einander. Die Anna aber sah nicht rechts noch links, erwiderte auch die Grüße kaum mit einem leisen Kopfnicken, sondern ging die steinige Fahrstraße hinan, als wäre sie schon ein abgeschiedener Geist, der weder irdische Beschwerde fühlen, noch Menschenrede achten könne. Dicht hinter ihr schritt die Rosine mit dem stillen Gesicht, das Alle gewohnt waren. Nur war es heute so bleich, daß mitleidige Weiber es sich mit Achselzucken und Kopfschütteln zeigten, während das Gesicht der Alten von einem frischen Roth angehaucht war. Sie nahm sich auch nicht die Zeit, auf der halben Höhe auszurasten, wo eine Bank am Felsen stand. Es war, als triebe sie die Ahnung vorwärts, daß sie keine Minute zu verlieren habe. Und freilich hatte die Nacht Unheil gebraut und gegen Morgen ein drohendes Gewitter um das kleine Haus auf dem Küchelberg zusammengezogen. Bald nach Mitternacht war der Schläfer vor der Thür aufgewacht, von der Kälte geschüttelt. Er hatte sich sacht in den Flur geschlichen, und als er sein armes Weib

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T11:27:07Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T11:27:07Z)

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Zitationshilfe: Heyse, Paul: Der Weinhüter von Meran. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 173–319. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heyse_weinhueter_1910/141>, abgerufen am 25.04.2024.