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Heyse, Paul: Der Weinhüter von Meran. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 173–319. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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die andern Leute aufzuhetzen, die Alle nicht wissen, was sie hier thun. Geh heim, auf der Stelle, und zieh dein Feiertagsgewand an, und dann komm wieder herab zur Kirche und bete zu unserm Heiland auf den Knieen, daß er dir deine Sünden nicht schwerer anrechne, als dem Andree und der Moidi da drinnen, die du armseliger Mensch zu Gericht ziehen willst, als wärest du der Richter, und bist selbst nur ein unwissender sündiger Mensch, wie wir Alle sind. Steh mir hier nicht länger im Weg, fuhr sie mit erhobener Stimme fort, und ihr Andern geht auch eurer Wege; nur ich habe ein Recht, an diese Thür zu klopfen, denn daß ihr es nur wißt: da drinnen wohnt mein Sohn, den ich mit Schmerzen geboren und lange Jahre verläugnet habe, weil ich ein schwaches Weib gewesen bin und die Schande vor der Welt gefürchtet habe. Jetzt aber sage und bezeuge ich vor dem Angesicht Gottes des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes und vor den Ohren Aller, die hier versammelt sind: mein ist er, und wer ihn anklagen oder schmähen will, der klage mich an, denn ich habe es verschuldet, daß er in Schuld und Elend gefallen ist, weil ich ihn nicht an meiner Hand gehalten habe, wie eine Mutter ihr Kind halten soll, sondern habe ihn einer Fremden überlassen, die ihn nicht lieben konnte. Nun wisset ihr's, und nun gehet in die Kirche hinunter und betet für eine große Sünderin, die ihr für fromm uud gerecht gehalten und geehrt habt, und die von allen Frauen die letzte und

die andern Leute aufzuhetzen, die Alle nicht wissen, was sie hier thun. Geh heim, auf der Stelle, und zieh dein Feiertagsgewand an, und dann komm wieder herab zur Kirche und bete zu unserm Heiland auf den Knieen, daß er dir deine Sünden nicht schwerer anrechne, als dem Andree und der Moidi da drinnen, die du armseliger Mensch zu Gericht ziehen willst, als wärest du der Richter, und bist selbst nur ein unwissender sündiger Mensch, wie wir Alle sind. Steh mir hier nicht länger im Weg, fuhr sie mit erhobener Stimme fort, und ihr Andern geht auch eurer Wege; nur ich habe ein Recht, an diese Thür zu klopfen, denn daß ihr es nur wißt: da drinnen wohnt mein Sohn, den ich mit Schmerzen geboren und lange Jahre verläugnet habe, weil ich ein schwaches Weib gewesen bin und die Schande vor der Welt gefürchtet habe. Jetzt aber sage und bezeuge ich vor dem Angesicht Gottes des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes und vor den Ohren Aller, die hier versammelt sind: mein ist er, und wer ihn anklagen oder schmähen will, der klage mich an, denn ich habe es verschuldet, daß er in Schuld und Elend gefallen ist, weil ich ihn nicht an meiner Hand gehalten habe, wie eine Mutter ihr Kind halten soll, sondern habe ihn einer Fremden überlassen, die ihn nicht lieben konnte. Nun wisset ihr's, und nun gehet in die Kirche hinunter und betet für eine große Sünderin, die ihr für fromm uud gerecht gehalten und geehrt habt, und die von allen Frauen die letzte und

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die andern Leute aufzuhetzen, die Alle nicht wissen, was sie hier thun. Geh heim,     auf der Stelle, und zieh dein Feiertagsgewand an, und dann komm wieder herab zur Kirche und bete     zu unserm Heiland auf den Knieen, daß er dir deine Sünden nicht schwerer anrechne, als dem     Andree und der Moidi da drinnen, die du armseliger Mensch zu Gericht ziehen willst, als wärest     du der Richter, und bist selbst nur ein unwissender sündiger Mensch, wie wir Alle sind. Steh mir     hier nicht länger im Weg, fuhr sie mit erhobener Stimme fort, und ihr Andern geht auch eurer     Wege; nur ich habe ein Recht, an diese Thür zu klopfen, denn daß ihr es nur wißt: da drinnen     wohnt mein Sohn, den ich mit Schmerzen geboren und lange Jahre verläugnet habe, weil ich ein     schwaches Weib gewesen bin und die Schande vor der Welt gefürchtet habe. Jetzt aber sage und     bezeuge ich vor dem Angesicht Gottes des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes und vor     den Ohren Aller, die hier versammelt sind: mein ist er, und wer ihn anklagen oder schmähen will,     der klage mich an, denn ich habe es verschuldet, daß er in Schuld und Elend gefallen ist, weil     ich ihn nicht an meiner Hand gehalten habe, wie eine Mutter ihr Kind halten soll, sondern habe     ihn einer Fremden überlassen, die ihn nicht lieben konnte. Nun wisset ihr's, und nun gehet in     die Kirche hinunter und betet für eine große Sünderin, die ihr für fromm uud gerecht gehalten     und geehrt habt, und die von allen Frauen die letzte und<lb/></p>
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[0146] die andern Leute aufzuhetzen, die Alle nicht wissen, was sie hier thun. Geh heim, auf der Stelle, und zieh dein Feiertagsgewand an, und dann komm wieder herab zur Kirche und bete zu unserm Heiland auf den Knieen, daß er dir deine Sünden nicht schwerer anrechne, als dem Andree und der Moidi da drinnen, die du armseliger Mensch zu Gericht ziehen willst, als wärest du der Richter, und bist selbst nur ein unwissender sündiger Mensch, wie wir Alle sind. Steh mir hier nicht länger im Weg, fuhr sie mit erhobener Stimme fort, und ihr Andern geht auch eurer Wege; nur ich habe ein Recht, an diese Thür zu klopfen, denn daß ihr es nur wißt: da drinnen wohnt mein Sohn, den ich mit Schmerzen geboren und lange Jahre verläugnet habe, weil ich ein schwaches Weib gewesen bin und die Schande vor der Welt gefürchtet habe. Jetzt aber sage und bezeuge ich vor dem Angesicht Gottes des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes und vor den Ohren Aller, die hier versammelt sind: mein ist er, und wer ihn anklagen oder schmähen will, der klage mich an, denn ich habe es verschuldet, daß er in Schuld und Elend gefallen ist, weil ich ihn nicht an meiner Hand gehalten habe, wie eine Mutter ihr Kind halten soll, sondern habe ihn einer Fremden überlassen, die ihn nicht lieben konnte. Nun wisset ihr's, und nun gehet in die Kirche hinunter und betet für eine große Sünderin, die ihr für fromm uud gerecht gehalten und geehrt habt, und die von allen Frauen die letzte und

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T11:27:07Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T11:27:07Z)

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Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




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Zitationshilfe: Heyse, Paul: Der Weinhüter von Meran. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 173–319. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heyse_weinhueter_1910/146>, abgerufen am 29.03.2024.