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Heyse, Paul: Der Weinhüter von Meran. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 173–319. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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dem seine Schwester schlief. Und hier über die steinerne Brustwehr hinab -- ein letztes Gebet und ein rascher Sprung -- und er wäre aller irdischen Qual entrückt gewesen. Aber als ob ihm vor beiden Versuchungen gleich sehr graute, schritt er nun hastiger über die hallenden Steinplatten der Brücke und trocknete sich den Schweiß von der Stirn, als er drüben die Abhänge von Obermais betrat.

Die Saltner riefen ihn an, als er durch Gassen und Fußpfade Hinausstieg. Er wechselte das Zeichen mit ihnen, stand aber nicht Rede auf weitere Fragen. Immer ungeduldiger sah er zu der Höhe auf, von der die alte Burg herniederwinkte, ein schwarzer unförmlicher Sternhaufen, um den die hohen Kastanienwipfel rauschten und ringsum durch die Weingärten die Bäche zu Thale flossen. Dieses Weges war Andree nicht mehr gegangen seit seinem siebenten Jahr, wo er einmal die Kinder des Hirzer droben aufgesucht hatte, im Stillen darnach verlangend, seine sanfte, blasse, schönäugige Pathe zu sehen, die Tante Anna. Damals hatte ihn der Bauer mit unholden Worten vom Hofe weggescholten und ihm verboten, sich je wieder blicken zu lassen. Knirschend war er gegangen, und nichts hätte ihn vermocht, die Schwelle wieder zu betreten. Aber die Noth, in der er war, ließ ihn all den alten Hader vergessen.

Erst wie er droben war, nach mühseligen Irrwegen über die Felsen, fiel es ihm aufs Herz, daß

dem seine Schwester schlief. Und hier über die steinerne Brustwehr hinab — ein letztes Gebet und ein rascher Sprung — und er wäre aller irdischen Qual entrückt gewesen. Aber als ob ihm vor beiden Versuchungen gleich sehr graute, schritt er nun hastiger über die hallenden Steinplatten der Brücke und trocknete sich den Schweiß von der Stirn, als er drüben die Abhänge von Obermais betrat.

Die Saltner riefen ihn an, als er durch Gassen und Fußpfade Hinausstieg. Er wechselte das Zeichen mit ihnen, stand aber nicht Rede auf weitere Fragen. Immer ungeduldiger sah er zu der Höhe auf, von der die alte Burg herniederwinkte, ein schwarzer unförmlicher Sternhaufen, um den die hohen Kastanienwipfel rauschten und ringsum durch die Weingärten die Bäche zu Thale flossen. Dieses Weges war Andree nicht mehr gegangen seit seinem siebenten Jahr, wo er einmal die Kinder des Hirzer droben aufgesucht hatte, im Stillen darnach verlangend, seine sanfte, blasse, schönäugige Pathe zu sehen, die Tante Anna. Damals hatte ihn der Bauer mit unholden Worten vom Hofe weggescholten und ihm verboten, sich je wieder blicken zu lassen. Knirschend war er gegangen, und nichts hätte ihn vermocht, die Schwelle wieder zu betreten. Aber die Noth, in der er war, ließ ihn all den alten Hader vergessen.

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[0067] dem seine Schwester schlief. Und hier über die steinerne Brustwehr hinab — ein letztes Gebet und ein rascher Sprung — und er wäre aller irdischen Qual entrückt gewesen. Aber als ob ihm vor beiden Versuchungen gleich sehr graute, schritt er nun hastiger über die hallenden Steinplatten der Brücke und trocknete sich den Schweiß von der Stirn, als er drüben die Abhänge von Obermais betrat. Die Saltner riefen ihn an, als er durch Gassen und Fußpfade Hinausstieg. Er wechselte das Zeichen mit ihnen, stand aber nicht Rede auf weitere Fragen. Immer ungeduldiger sah er zu der Höhe auf, von der die alte Burg herniederwinkte, ein schwarzer unförmlicher Sternhaufen, um den die hohen Kastanienwipfel rauschten und ringsum durch die Weingärten die Bäche zu Thale flossen. Dieses Weges war Andree nicht mehr gegangen seit seinem siebenten Jahr, wo er einmal die Kinder des Hirzer droben aufgesucht hatte, im Stillen darnach verlangend, seine sanfte, blasse, schönäugige Pathe zu sehen, die Tante Anna. Damals hatte ihn der Bauer mit unholden Worten vom Hofe weggescholten und ihm verboten, sich je wieder blicken zu lassen. Knirschend war er gegangen, und nichts hätte ihn vermocht, die Schwelle wieder zu betreten. Aber die Noth, in der er war, ließ ihn all den alten Hader vergessen. Erst wie er droben war, nach mühseligen Irrwegen über die Felsen, fiel es ihm aufs Herz, daß

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T11:27:07Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T11:27:07Z)

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Zitationshilfe: Heyse, Paul: Der Weinhüter von Meran. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 173–319. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heyse_weinhueter_1910/67>, abgerufen am 07.05.2024.