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Heyse, Paul: Der Weinhüter von Meran. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 173–319. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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finden ihn gar nicht. Wer weiß, wo er steckt in der weiten Welt!

Auch darauf erwiderte die Rosine nichts. Sie wußte nur zu gut, daß sie ihn finden würden, und fürchtete sich davor, ohne recht zu wissen, warum. Als sie oben am Klosterthor die Glocke läuteten und den Bruder Pförtner nach dem Andreas Ingram fragten, nickte der Alte und sah die hübschen Kinder forschend an. Er soll herauskommen, warf die Moidi rasch hin. Es sei ein Bote da von Meran. Aber sagt ihm nicht, wer.

Sie setzten sich auf eine steinerne Bank neben der Pforte und warteten. Es ist richtig, Rosel, er ist doch hier; wie er's nur überstanden hat! sagte die Schwester. Sie strich sich mit den Händen über die Stirn, die ihr glühte, und machte sich an ihrem Anzug zu schaffen, um ihre Unruhe zu verbergen. Die Rosine saß still an die Mauer gelehnt, beide Hände im Schooß, die Augen zugedrückt, als blende sie das Abendroth drüben an den Berggipfeln.

Da klang die Pforte wieder, und mit einem Schrei: Andree, grüß' dich Gott, ich bin's! stürzte die Moidi dem Heraustretenden an den Hals. In demselben Augenblick fuhr sie aber erschrocken zurück. Er war es und war es doch nicht mehr; der eine Winter schien ihn um zehn Jahre gealtert zu haben. Auch blieb er sprachlos vor ihr stehen und sah sie unverwandt mit finstern, angstvollen Augen an, als

finden ihn gar nicht. Wer weiß, wo er steckt in der weiten Welt!

Auch darauf erwiderte die Rosine nichts. Sie wußte nur zu gut, daß sie ihn finden würden, und fürchtete sich davor, ohne recht zu wissen, warum. Als sie oben am Klosterthor die Glocke läuteten und den Bruder Pförtner nach dem Andreas Ingram fragten, nickte der Alte und sah die hübschen Kinder forschend an. Er soll herauskommen, warf die Moidi rasch hin. Es sei ein Bote da von Meran. Aber sagt ihm nicht, wer.

Sie setzten sich auf eine steinerne Bank neben der Pforte und warteten. Es ist richtig, Rosel, er ist doch hier; wie er's nur überstanden hat! sagte die Schwester. Sie strich sich mit den Händen über die Stirn, die ihr glühte, und machte sich an ihrem Anzug zu schaffen, um ihre Unruhe zu verbergen. Die Rosine saß still an die Mauer gelehnt, beide Hände im Schooß, die Augen zugedrückt, als blende sie das Abendroth drüben an den Berggipfeln.

Da klang die Pforte wieder, und mit einem Schrei: Andree, grüß' dich Gott, ich bin's! stürzte die Moidi dem Heraustretenden an den Hals. In demselben Augenblick fuhr sie aber erschrocken zurück. Er war es und war es doch nicht mehr; der eine Winter schien ihn um zehn Jahre gealtert zu haben. Auch blieb er sprachlos vor ihr stehen und sah sie unverwandt mit finstern, angstvollen Augen an, als

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[0089] finden ihn gar nicht. Wer weiß, wo er steckt in der weiten Welt! Auch darauf erwiderte die Rosine nichts. Sie wußte nur zu gut, daß sie ihn finden würden, und fürchtete sich davor, ohne recht zu wissen, warum. Als sie oben am Klosterthor die Glocke läuteten und den Bruder Pförtner nach dem Andreas Ingram fragten, nickte der Alte und sah die hübschen Kinder forschend an. Er soll herauskommen, warf die Moidi rasch hin. Es sei ein Bote da von Meran. Aber sagt ihm nicht, wer. Sie setzten sich auf eine steinerne Bank neben der Pforte und warteten. Es ist richtig, Rosel, er ist doch hier; wie er's nur überstanden hat! sagte die Schwester. Sie strich sich mit den Händen über die Stirn, die ihr glühte, und machte sich an ihrem Anzug zu schaffen, um ihre Unruhe zu verbergen. Die Rosine saß still an die Mauer gelehnt, beide Hände im Schooß, die Augen zugedrückt, als blende sie das Abendroth drüben an den Berggipfeln. Da klang die Pforte wieder, und mit einem Schrei: Andree, grüß' dich Gott, ich bin's! stürzte die Moidi dem Heraustretenden an den Hals. In demselben Augenblick fuhr sie aber erschrocken zurück. Er war es und war es doch nicht mehr; der eine Winter schien ihn um zehn Jahre gealtert zu haben. Auch blieb er sprachlos vor ihr stehen und sah sie unverwandt mit finstern, angstvollen Augen an, als

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T11:27:07Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T11:27:07Z)

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Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




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Zitationshilfe: Heyse, Paul: Der Weinhüter von Meran. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 173–319. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heyse_weinhueter_1910/89>, abgerufen am 26.04.2024.