Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Huber, Therese: Bemerkungen über Holland aus dem Reisejournal einer deutschen Frau. Leipzig, 1811.

Bild:
<< vorherige Seite

Schuldigkeit nicht gethan, und sein Volk nicht be-
schützt hat -- wie können die Menschen an dem
Tage, wo sie das Andenken einer feindlichen Er-
oberung feiern, diesen Psalm singen, ohne An-
wendungen zu machen, die zu einem schrecklichen
Resultat führen könnten? -- und wie manchmal
hörte ich in Deutschland von österreichischen Sol-
daten, von Bundestruppen Schillers Reuterslied
mit allen seinen Strophen singen, und -- Gott
sey Dank! -- es wirkte auch nicht. Mir ward
in der Oudewatner Kirche ganz wunderlich, wie
der Mensch die Belagerung beschrieb, die Orte
nannte, wo ihre Voreltern auf den Mauern gefal-
len waren, die Verzweiflung der Mütter beschrieb,
die auf dem nahen Platze ihre Kinder vertheidigt
hatten, die Verdammniß der Abtrünnigen, die in
der Kirche, wo jetzt die reine Lehre erschalle, zur
Abgötterei gezwungen worden -- und dann den
schauderlichen Psalm intonirte! -- Aber die Menge
um mich her nahm wenig Antheil daran, prome-
nirte, schwatzte und schlief -- wirklich auf eine
recht unanständige Weise. Ihr könnt diese Gleich-
gültigkeit durch die Gewohnheit entschuldigen, seit
ein Paar hundert Jahren denselben Gegenstand
behandeln zu hören; aber das erklärt es nicht. Es

Schuldigkeit nicht gethan, und ſein Volk nicht be-
ſchuͤtzt hat — wie koͤnnen die Menſchen an dem
Tage, wo ſie das Andenken einer feindlichen Er-
oberung feiern, dieſen Pſalm ſingen, ohne An-
wendungen zu machen, die zu einem ſchrecklichen
Reſultat fuͤhren koͤnnten? — und wie manchmal
hoͤrte ich in Deutſchland von oͤſterreichiſchen Sol-
daten, von Bundestruppen Schillers Reuterslied
mit allen ſeinen Strophen ſingen, und — Gott
ſey Dank! — es wirkte auch nicht. Mir ward
in der Oudewatner Kirche ganz wunderlich, wie
der Menſch die Belagerung beſchrieb, die Orte
nannte, wo ihre Voreltern auf den Mauern gefal-
len waren, die Verzweiflung der Muͤtter beſchrieb,
die auf dem nahen Platze ihre Kinder vertheidigt
hatten, die Verdammniß der Abtruͤnnigen, die in
der Kirche, wo jetzt die reine Lehre erſchalle, zur
Abgoͤtterei gezwungen worden — und dann den
ſchauderlichen Pſalm intonirte! — Aber die Menge
um mich her nahm wenig Antheil daran, prome-
nirte, ſchwatzte und ſchlief — wirklich auf eine
recht unanſtaͤndige Weiſe. Ihr koͤnnt dieſe Gleich-
guͤltigkeit durch die Gewohnheit entſchuldigen, ſeit
ein Paar hundert Jahren denſelben Gegenſtand
behandeln zu hoͤren; aber das erklaͤrt es nicht. Es

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0286" n="272"/>
Schuldigkeit nicht gethan, und &#x017F;ein Volk nicht be-<lb/>
&#x017F;chu&#x0364;tzt hat &#x2014; wie ko&#x0364;nnen die Men&#x017F;chen an dem<lb/>
Tage, wo &#x017F;ie das Andenken einer feindlichen Er-<lb/>
oberung feiern, die&#x017F;en P&#x017F;alm &#x017F;ingen, ohne An-<lb/>
wendungen zu machen, die zu einem &#x017F;chrecklichen<lb/>
Re&#x017F;ultat fu&#x0364;hren ko&#x0364;nnten? &#x2014; und wie manchmal<lb/>
ho&#x0364;rte ich in Deut&#x017F;chland von o&#x0364;&#x017F;terreichi&#x017F;chen Sol-<lb/>
daten, von Bundestruppen Schillers Reuterslied<lb/>
mit allen &#x017F;einen Strophen &#x017F;ingen, und &#x2014; Gott<lb/>
&#x017F;ey Dank! &#x2014; es wirkte auch nicht. Mir ward<lb/>
in der Oudewatner Kirche ganz wunderlich, wie<lb/>
der Men&#x017F;ch die Belagerung be&#x017F;chrieb, die Orte<lb/>
nannte, wo ihre Voreltern auf den Mauern gefal-<lb/>
len waren, die Verzweiflung der Mu&#x0364;tter be&#x017F;chrieb,<lb/>
die auf dem nahen Platze ihre Kinder vertheidigt<lb/>
hatten, die Verdammniß der Abtru&#x0364;nnigen, die in<lb/>
der Kirche, wo jetzt die reine Lehre er&#x017F;challe, zur<lb/>
Abgo&#x0364;tterei gezwungen worden &#x2014; und dann den<lb/>
&#x017F;chauderlichen P&#x017F;alm intonirte! &#x2014; Aber die Menge<lb/>
um mich her nahm wenig Antheil daran, prome-<lb/>
nirte, &#x017F;chwatzte und &#x017F;chlief &#x2014; wirklich auf eine<lb/>
recht unan&#x017F;ta&#x0364;ndige Wei&#x017F;e. Ihr ko&#x0364;nnt die&#x017F;e Gleich-<lb/>
gu&#x0364;ltigkeit durch die Gewohnheit ent&#x017F;chuldigen, &#x017F;eit<lb/>
ein Paar hundert Jahren den&#x017F;elben Gegen&#x017F;tand<lb/>
behandeln zu ho&#x0364;ren; aber das erkla&#x0364;rt es nicht. Es<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[272/0286] Schuldigkeit nicht gethan, und ſein Volk nicht be- ſchuͤtzt hat — wie koͤnnen die Menſchen an dem Tage, wo ſie das Andenken einer feindlichen Er- oberung feiern, dieſen Pſalm ſingen, ohne An- wendungen zu machen, die zu einem ſchrecklichen Reſultat fuͤhren koͤnnten? — und wie manchmal hoͤrte ich in Deutſchland von oͤſterreichiſchen Sol- daten, von Bundestruppen Schillers Reuterslied mit allen ſeinen Strophen ſingen, und — Gott ſey Dank! — es wirkte auch nicht. Mir ward in der Oudewatner Kirche ganz wunderlich, wie der Menſch die Belagerung beſchrieb, die Orte nannte, wo ihre Voreltern auf den Mauern gefal- len waren, die Verzweiflung der Muͤtter beſchrieb, die auf dem nahen Platze ihre Kinder vertheidigt hatten, die Verdammniß der Abtruͤnnigen, die in der Kirche, wo jetzt die reine Lehre erſchalle, zur Abgoͤtterei gezwungen worden — und dann den ſchauderlichen Pſalm intonirte! — Aber die Menge um mich her nahm wenig Antheil daran, prome- nirte, ſchwatzte und ſchlief — wirklich auf eine recht unanſtaͤndige Weiſe. Ihr koͤnnt dieſe Gleich- guͤltigkeit durch die Gewohnheit entſchuldigen, ſeit ein Paar hundert Jahren denſelben Gegenſtand behandeln zu hoͤren; aber das erklaͤrt es nicht. Es

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/huber_reisejournal_1811
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/huber_reisejournal_1811/286
Zitationshilfe: Huber, Therese: Bemerkungen über Holland aus dem Reisejournal einer deutschen Frau. Leipzig, 1811, S. 272. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/huber_reisejournal_1811/286>, abgerufen am 19.04.2024.