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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Übers. v. Hermann Hauff. Bd. 1. Stuttgart, 1859.

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daneben aber die gesundeste Nahrung, das trefflichste An-
regungsmittel für die zum Studium irgend einer Erfahrungs-
wissenschaft bestimmte Jugend. Wenn ich mir vergegen-
wärtige, was ich selbst als Jüngling diesem Werke schuldig
geworden bin, so erkenne ich seinen Wert aufs lebhafteste;
aber auf dem Standpunkt meiner gegenwärtigen litterarischen
Erfahrung erkenne ich auch, in welchem Verhältnis es zu der
immer wachsenden Menge derjenigen steht, welche sich dilet-
tantisch mit der Wissenschaft beschäftigen, welche sich gern
bilden mögen, wenn noch ein anderer Genuß dabei ist, als
der ernste, welcher aus dem Gefühl innerer Veredelung ent-
springt. Werden diese vom großen Namen des Verfassers
noch so sehr angezogen, so sehen sie sich durch das bedeutende
Volumen des Werkes an der Schwelle abgewiesen, und wagen
sie sich dennoch hinein, so werden sie bald gewahr, daß sie
nur über Massen strenger Wissenschaft hinweg den Schritten
des Reisenden durch die großartigste Natur folgen könnten.
Und doch ist nach meiner Ueberzeugung in diesem Werke ein
allgemein zugängliches Buch enthalten, dem in unserer Zeit,
die auf Diffusion des Naturwissens durch den Körper der
Gesellschaft ausgeht, an bildender Kraft kaum etwas gleich
käme. Die Zeiten sind vorbei, wo ganze bisher unbekannte
Stücke Natur dem Seefahrer in die Hände fielen, wo ganze
Idyllen, wie Tahiti, entdeckt wurden, wo der Reisende nur
zu erzählen brauchte, was er gesehen, um die Wißbegierde zu
vergnügen und die Einbildungskraft zu entzünden. Von der
Breite der Natur hat sich der Geist der Tiefe zugewendet,
und da die unwissenschaftliche Neugier der immer mehr ins
Detail dringenden Forschung nicht folgen kann, so begreift
sich, daß heutige Reisebeschreibungen nicht den Reiz haben und
den Einfluß üben können wie früher, wenn es der Reise-
beschreiber nicht versteht, durch das zu wirken, was in den
jetzigen Geistern an die Stelle der brennenden Neugier nach
neuen Naturprodukten, nach neuen Ländern und Völkern ge-
treten ist. Seit es keine Naturwunder im früheren Sinne
mehr gibt, sind es vor allem die Gedanken der Natur in
ihren Bildungen, die Gesetze in ihren Bewegungen, was die
produktiven und die rezeptiven Kräfte, die Forscher und die

daneben aber die geſundeſte Nahrung, das trefflichſte An-
regungsmittel für die zum Studium irgend einer Erfahrungs-
wiſſenſchaft beſtimmte Jugend. Wenn ich mir vergegen-
wärtige, was ich ſelbſt als Jüngling dieſem Werke ſchuldig
geworden bin, ſo erkenne ich ſeinen Wert aufs lebhafteſte;
aber auf dem Standpunkt meiner gegenwärtigen litterariſchen
Erfahrung erkenne ich auch, in welchem Verhältnis es zu der
immer wachſenden Menge derjenigen ſteht, welche ſich dilet-
tantiſch mit der Wiſſenſchaft beſchäftigen, welche ſich gern
bilden mögen, wenn noch ein anderer Genuß dabei iſt, als
der ernſte, welcher aus dem Gefühl innerer Veredelung ent-
ſpringt. Werden dieſe vom großen Namen des Verfaſſers
noch ſo ſehr angezogen, ſo ſehen ſie ſich durch das bedeutende
Volumen des Werkes an der Schwelle abgewieſen, und wagen
ſie ſich dennoch hinein, ſo werden ſie bald gewahr, daß ſie
nur über Maſſen ſtrenger Wiſſenſchaft hinweg den Schritten
des Reiſenden durch die großartigſte Natur folgen könnten.
Und doch iſt nach meiner Ueberzeugung in dieſem Werke ein
allgemein zugängliches Buch enthalten, dem in unſerer Zeit,
die auf Diffuſion des Naturwiſſens durch den Körper der
Geſellſchaft ausgeht, an bildender Kraft kaum etwas gleich
käme. Die Zeiten ſind vorbei, wo ganze bisher unbekannte
Stücke Natur dem Seefahrer in die Hände fielen, wo ganze
Idyllen, wie Tahiti, entdeckt wurden, wo der Reiſende nur
zu erzählen brauchte, was er geſehen, um die Wißbegierde zu
vergnügen und die Einbildungskraft zu entzünden. Von der
Breite der Natur hat ſich der Geiſt der Tiefe zugewendet,
und da die unwiſſenſchaftliche Neugier der immer mehr ins
Detail dringenden Forſchung nicht folgen kann, ſo begreift
ſich, daß heutige Reiſebeſchreibungen nicht den Reiz haben und
den Einfluß üben können wie früher, wenn es der Reiſe-
beſchreiber nicht verſteht, durch das zu wirken, was in den
jetzigen Geiſtern an die Stelle der brennenden Neugier nach
neuen Naturprodukten, nach neuen Ländern und Völkern ge-
treten iſt. Seit es keine Naturwunder im früheren Sinne
mehr gibt, ſind es vor allem die Gedanken der Natur in
ihren Bildungen, die Geſetze in ihren Bewegungen, was die
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[IX/0013] daneben aber die geſundeſte Nahrung, das trefflichſte An- regungsmittel für die zum Studium irgend einer Erfahrungs- wiſſenſchaft beſtimmte Jugend. Wenn ich mir vergegen- wärtige, was ich ſelbſt als Jüngling dieſem Werke ſchuldig geworden bin, ſo erkenne ich ſeinen Wert aufs lebhafteſte; aber auf dem Standpunkt meiner gegenwärtigen litterariſchen Erfahrung erkenne ich auch, in welchem Verhältnis es zu der immer wachſenden Menge derjenigen ſteht, welche ſich dilet- tantiſch mit der Wiſſenſchaft beſchäftigen, welche ſich gern bilden mögen, wenn noch ein anderer Genuß dabei iſt, als der ernſte, welcher aus dem Gefühl innerer Veredelung ent- ſpringt. Werden dieſe vom großen Namen des Verfaſſers noch ſo ſehr angezogen, ſo ſehen ſie ſich durch das bedeutende Volumen des Werkes an der Schwelle abgewieſen, und wagen ſie ſich dennoch hinein, ſo werden ſie bald gewahr, daß ſie nur über Maſſen ſtrenger Wiſſenſchaft hinweg den Schritten des Reiſenden durch die großartigſte Natur folgen könnten. Und doch iſt nach meiner Ueberzeugung in dieſem Werke ein allgemein zugängliches Buch enthalten, dem in unſerer Zeit, die auf Diffuſion des Naturwiſſens durch den Körper der Geſellſchaft ausgeht, an bildender Kraft kaum etwas gleich käme. Die Zeiten ſind vorbei, wo ganze bisher unbekannte Stücke Natur dem Seefahrer in die Hände fielen, wo ganze Idyllen, wie Tahiti, entdeckt wurden, wo der Reiſende nur zu erzählen brauchte, was er geſehen, um die Wißbegierde zu vergnügen und die Einbildungskraft zu entzünden. Von der Breite der Natur hat ſich der Geiſt der Tiefe zugewendet, und da die unwiſſenſchaftliche Neugier der immer mehr ins Detail dringenden Forſchung nicht folgen kann, ſo begreift ſich, daß heutige Reiſebeſchreibungen nicht den Reiz haben und den Einfluß üben können wie früher, wenn es der Reiſe- beſchreiber nicht verſteht, durch das zu wirken, was in den jetzigen Geiſtern an die Stelle der brennenden Neugier nach neuen Naturprodukten, nach neuen Ländern und Völkern ge- treten iſt. Seit es keine Naturwunder im früheren Sinne mehr gibt, ſind es vor allem die Gedanken der Natur in ihren Bildungen, die Geſetze in ihren Bewegungen, was die produktiven und die rezeptiven Kräfte, die Forſcher und die

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Übers. v. Hermann Hauff. Bd. 1. Stuttgart, 1859, S. IX. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial01_1859/13>, abgerufen am 28.03.2024.