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Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau, 1851.

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welche der Weise nie nur auszuführen versuchen würde. Ja
für die schönste, gereifteste Frucht des Geistes ist die Wirk-
lichkeit nie, in keinem Zeitalter, reif genug; das Ideal muss
der Seele des Bildners jeder Art nur immer, als unerreichbares
Muster vorschweben. Diese Gründe empfehlen demnach auch
bei der am mindesten bezweifelten, konsequentesten Theorie
mehr als gewöhnliche Vorsicht in der Anwendung derselben;
und um so mehr bewegen sie mich noch, ehe ich diese ganze
Arbeit beschliesse, so vollständig, aber zugleich so kurz, als
mir meine Kräfte erlauben, zu prüfen, inwiefern die im Vorigen
theoretisch entwickelten Grundsätze in die Wirklichkeit über-
getragen werden könnten. Diese Prüfung wird zugleich dazu
dienen, mich vor der Beschuldigung zu bewahren, als wollte
ich durch das Vorige unmittelbar der Wirklichkeit Regeln vor-
schreiben, oder auch nur dasjenige missbilligen, was demselben
etwa in ihr widerspricht -- eine Anmassung, von der ich so-
gar dann entfernt sein würde, wenn ich auch alles, was ich vor-
getragen habe, als völlig richtig und gänzlich zweifellos aner-
kennte.

Bei jeglicher Umformung der Gegenwart muss auf den bis-
herigen Zustand ein neuer folgen. Nun aber bringt jede Lage,
in welcher sich die Menschen befinden, jeder Gegenstand, der
sie umgiebt, eine bestimmte, feste Form in ihrem Innern her-
vor. Diese Form vermag nicht in jede selbstgewählte überzu-
gehen, und man verfehlt zugleich seines Endzwecks und tödtet
die Kraft, wenn man ihr eine unpassende aufdringt. Wenn
man die wichtigsten Revolutionen der Geschichte übersieht, so
entdeckt man, ohne Mühe, dass die meisten derselben aus den
periodischen Revolutionen des menschlichen Geistes entstan-
den sind. Noch mehr wird man in dieser Ansicht bestätigt,
wenn man die Kräfte überschlägt, welche eigentlich alle Ver-
änderungen auf dem Erdkreis bewirken, und unter diesen die
menschlichen -- da die der physischen Natur wegen ihres

welche der Weise nie nur auszuführen versuchen würde. Ja
für die schönste, gereifteste Frucht des Geistes ist die Wirk-
lichkeit nie, in keinem Zeitalter, reif genug; das Ideal muss
der Seele des Bildners jeder Art nur immer, als unerreichbares
Muster vorschweben. Diese Gründe empfehlen demnach auch
bei der am mindesten bezweifelten, konsequentesten Theorie
mehr als gewöhnliche Vorsicht in der Anwendung derselben;
und um so mehr bewegen sie mich noch, ehe ich diese ganze
Arbeit beschliesse, so vollständig, aber zugleich so kurz, als
mir meine Kräfte erlauben, zu prüfen, inwiefern die im Vorigen
theoretisch entwickelten Grundsätze in die Wirklichkeit über-
getragen werden könnten. Diese Prüfung wird zugleich dazu
dienen, mich vor der Beschuldigung zu bewahren, als wollte
ich durch das Vorige unmittelbar der Wirklichkeit Regeln vor-
schreiben, oder auch nur dasjenige missbilligen, was demselben
etwa in ihr widerspricht — eine Anmassung, von der ich so-
gar dann entfernt sein würde, wenn ich auch alles, was ich vor-
getragen habe, als völlig richtig und gänzlich zweifellos aner-
kennte.

Bei jeglicher Umformung der Gegenwart muss auf den bis-
herigen Zustand ein neuer folgen. Nun aber bringt jede Lage,
in welcher sich die Menschen befinden, jeder Gegenstand, der
sie umgiebt, eine bestimmte, feste Form in ihrem Innern her-
vor. Diese Form vermag nicht in jede selbstgewählte überzu-
gehen, und man verfehlt zugleich seines Endzwecks und tödtet
die Kraft, wenn man ihr eine unpassende aufdringt. Wenn
man die wichtigsten Revolutionen der Geschichte übersieht, so
entdeckt man, ohne Mühe, dass die meisten derselben aus den
periodischen Revolutionen des menschlichen Geistes entstan-
den sind. Noch mehr wird man in dieser Ansicht bestätigt,
wenn man die Kräfte überschlägt, welche eigentlich alle Ver-
änderungen auf dem Erdkreis bewirken, und unter diesen die
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[178/0214] welche der Weise nie nur auszuführen versuchen würde. Ja für die schönste, gereifteste Frucht des Geistes ist die Wirk- lichkeit nie, in keinem Zeitalter, reif genug; das Ideal muss der Seele des Bildners jeder Art nur immer, als unerreichbares Muster vorschweben. Diese Gründe empfehlen demnach auch bei der am mindesten bezweifelten, konsequentesten Theorie mehr als gewöhnliche Vorsicht in der Anwendung derselben; und um so mehr bewegen sie mich noch, ehe ich diese ganze Arbeit beschliesse, so vollständig, aber zugleich so kurz, als mir meine Kräfte erlauben, zu prüfen, inwiefern die im Vorigen theoretisch entwickelten Grundsätze in die Wirklichkeit über- getragen werden könnten. Diese Prüfung wird zugleich dazu dienen, mich vor der Beschuldigung zu bewahren, als wollte ich durch das Vorige unmittelbar der Wirklichkeit Regeln vor- schreiben, oder auch nur dasjenige missbilligen, was demselben etwa in ihr widerspricht — eine Anmassung, von der ich so- gar dann entfernt sein würde, wenn ich auch alles, was ich vor- getragen habe, als völlig richtig und gänzlich zweifellos aner- kennte. Bei jeglicher Umformung der Gegenwart muss auf den bis- herigen Zustand ein neuer folgen. Nun aber bringt jede Lage, in welcher sich die Menschen befinden, jeder Gegenstand, der sie umgiebt, eine bestimmte, feste Form in ihrem Innern her- vor. Diese Form vermag nicht in jede selbstgewählte überzu- gehen, und man verfehlt zugleich seines Endzwecks und tödtet die Kraft, wenn man ihr eine unpassende aufdringt. Wenn man die wichtigsten Revolutionen der Geschichte übersieht, so entdeckt man, ohne Mühe, dass die meisten derselben aus den periodischen Revolutionen des menschlichen Geistes entstan- den sind. Noch mehr wird man in dieser Ansicht bestätigt, wenn man die Kräfte überschlägt, welche eigentlich alle Ver- änderungen auf dem Erdkreis bewirken, und unter diesen die menschlichen — da die der physischen Natur wegen ihres

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Zitationshilfe: Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau, 1851, S. 178. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_grenzen_1851/214>, abgerufen am 24.04.2024.