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Humboldt, Alexander von: Die Lebenskraft oder der Rhodische Genius. Eine Erzählung. In: Die Horen. Eine Monatsschrift. Bd. 1. Tübingen, 1795, S. 90-96.

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auf die Jünglinge und Mädchen zu seinen Füssen herab.
Mehr charakteristisches war an dem Gemählde nicht zu
unterscheiden. Nur am Fusse glaubten einige noch die
Buchstaben z und o zu bemerken, woraus man (denn die
Antiquarier waren damals nicht minder kühn, als jetzt)
den Namen eines Künstlers Zenodorus, also gleichnamig
mit dem spätern Koloß-Giesser, sehr unglücklich zusam-
men setzte.

Dem Rhodischen Genius, so nannte man das räthsel-
hafte Bild, fehlte es indeß nicht an Auslegern in Syra-
kus. Kunstkenner, besonders die jüngsten, wenn sie von
einer flüchtigen Reise nach Corinth oder Athen zurükka-
men, hätten geglaubt, alle Ansprüche auf Genie ver-
läugnen zu müssen, wenn sie nicht sogleich mit einer neuen
Erklärung hervorgetreten wären. Einige hielten den Ge-
nius für den Ausdruck geistiger Liebe, die den Genuß
sinnlicher Freuden verbietet; andere glaubten, er solle die
Herrschaft der Vernunft über die Begierden andeuten. Die
Weiseren schwiegen, ahneten etwas Erhabenes, und er-
gözten sich im Poikile an der einfachen Komposition der
Gruppe.

So blieb die Sache immer unentschieden. Das Bild
ward mit mannigfachen Zusätzen copirt, in Reliefs geformt
und nach Griechenland gesandt, ohne daß man auch nur
über seinen Ursprung je einige Aufklärung erhielt. Als
einst mit dem frühen Aufgange der Plejaden die Schif-
fahrt ins Aegäische Meer wieder eröfnet ward, kamen
Schiffe aus Rhodus im Hafen von Syrakus an. Sie
enthielten einen Schatz von Statuen, Altären, Candela-
bern und Gemählden, welche die Kunstliebe der Dionyse


auf die Juͤnglinge und Maͤdchen zu ſeinen Fuͤſſen herab.
Mehr charakteriſtiſches war an dem Gemaͤhlde nicht zu
unterſcheiden. Nur am Fuſſe glaubten einige noch die
Buchſtaben ζ und ω zu bemerken, woraus man (denn die
Antiquarier waren damals nicht minder kuͤhn, als jetzt)
den Namen eines Kuͤnſtlers Zenodorus, alſo gleichnamig
mit dem ſpaͤtern Koloß-Gieſſer, ſehr ungluͤcklich zuſam-
men ſetzte.

Dem Rhodiſchen Genius, ſo nannte man das raͤthſel-
hafte Bild, fehlte es indeß nicht an Auslegern in Syra-
kus. Kunſtkenner, beſonders die juͤngſten, wenn ſie von
einer fluͤchtigen Reiſe nach Corinth oder Athen zuruͤkka-
men, haͤtten geglaubt, alle Anſpruͤche auf Genie ver-
laͤugnen zu muͤſſen, wenn ſie nicht ſogleich mit einer neuen
Erklaͤrung hervorgetreten waͤren. Einige hielten den Ge-
nius fuͤr den Ausdruck geiſtiger Liebe, die den Genuß
ſinnlicher Freuden verbietet; andere glaubten, er ſolle die
Herrſchaft der Vernunft uͤber die Begierden andeuten. Die
Weiſeren ſchwiegen, ahneten etwas Erhabenes, und er-
goͤzten ſich im Poikile an der einfachen Kompoſition der
Gruppe.

So blieb die Sache immer unentſchieden. Das Bild
ward mit mannigfachen Zuſaͤtzen copirt, in Reliefs geformt
und nach Griechenland geſandt, ohne daß man auch nur
uͤber ſeinen Urſprung je einige Aufklaͤrung erhielt. Als
einſt mit dem fruͤhen Aufgange der Plejaden die Schif-
fahrt ins Aegaͤiſche Meer wieder eroͤfnet ward, kamen
Schiffe aus Rhodus im Hafen von Syrakus an. Sie
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bern und Gemaͤhlden, welche die Kunſtliebe der Dionyſe

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[92/0005] auf die Juͤnglinge und Maͤdchen zu ſeinen Fuͤſſen herab. Mehr charakteriſtiſches war an dem Gemaͤhlde nicht zu unterſcheiden. Nur am Fuſſe glaubten einige noch die Buchſtaben ζ und ω zu bemerken, woraus man (denn die Antiquarier waren damals nicht minder kuͤhn, als jetzt) den Namen eines Kuͤnſtlers Zenodorus, alſo gleichnamig mit dem ſpaͤtern Koloß-Gieſſer, ſehr ungluͤcklich zuſam- men ſetzte. Dem Rhodiſchen Genius, ſo nannte man das raͤthſel- hafte Bild, fehlte es indeß nicht an Auslegern in Syra- kus. Kunſtkenner, beſonders die juͤngſten, wenn ſie von einer fluͤchtigen Reiſe nach Corinth oder Athen zuruͤkka- men, haͤtten geglaubt, alle Anſpruͤche auf Genie ver- laͤugnen zu muͤſſen, wenn ſie nicht ſogleich mit einer neuen Erklaͤrung hervorgetreten waͤren. Einige hielten den Ge- nius fuͤr den Ausdruck geiſtiger Liebe, die den Genuß ſinnlicher Freuden verbietet; andere glaubten, er ſolle die Herrſchaft der Vernunft uͤber die Begierden andeuten. Die Weiſeren ſchwiegen, ahneten etwas Erhabenes, und er- goͤzten ſich im Poikile an der einfachen Kompoſition der Gruppe. So blieb die Sache immer unentſchieden. Das Bild ward mit mannigfachen Zuſaͤtzen copirt, in Reliefs geformt und nach Griechenland geſandt, ohne daß man auch nur uͤber ſeinen Urſprung je einige Aufklaͤrung erhielt. Als einſt mit dem fruͤhen Aufgange der Plejaden die Schif- fahrt ins Aegaͤiſche Meer wieder eroͤfnet ward, kamen Schiffe aus Rhodus im Hafen von Syrakus an. Sie enthielten einen Schatz von Statuen, Altaͤren, Candela- bern und Gemaͤhlden, welche die Kunſtliebe der Dionyſe

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Die Lebenskraft oder der Rhodische Genius. Eine Erzählung. In: Die Horen. Eine Monatsschrift. Bd. 1. Tübingen, 1795, S. 90-96, hier S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_lebenskraft_1795/5>, abgerufen am 25.04.2024.