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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.

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Familie, und verlangte einen Beichtvater. Der Anfall dauerte
mehrere Stunden, und wurde nach einigen ruhigen Pausen
noch heftiger. Er lief tobend in der Stube umher, zertrüm¬
merte das Geräth, zerschlug das Fenster, und war bemüht,
dem Wärter Verletzungen beizubringen, weshalb er sofort in
die Irrenabtheilung versetzt wurde. Hier artete sich sein Zu¬
stand ganz auf dieselbe Weise, indem er mehrere Tage und
Nächte hindurch seine tobsüchtige Angst durch lautes Jammern
über seine schwere moralische Schuld und durch Wehklagen über
seine durch ihn unglücklich gewordene Familie verrieth, und keine
Frage genügend beantwortete. Er betheuerte, Alles zur Er¬
leichterung seines Gewissens gestehen zu wollen, und gab beson¬
ders als Ursache seiner Verzweiflung an, daß er vor vielen
Jahren in Wien ein uneheliches Kind gezeugt, und später eine
geschiedene Frau geheirathet habe. Indem er sich unter den
ausdrucksvollsten Mienen und Gesticulationen den unglücklichsten,
verworfensten und schuldbelastesten Mann nannte, verfluchte er
seinen Leichtsinn, seine Schwäche, so wie die Strenge seiner
Examinatoren, und gedachte jammernd seines früheren, nun
auf immer zerstörten Glücks.

Nachdem dieser Zustand mehrere Tage fast unverändert
fortgedauert hatte, entstand unstreitig in Folge seiner heftigen
Bewegungen an dem linken Arm, an welchem er schon vor
seiner Aufnahme in die Irrenabtheilung zur Ader gelassen wor¬
den war, eine Entzündung, indem sich zugleich ein Eiterge¬
schwür an der Aderlaßwunde bildete. Erweichende Umschläge
und warme Armbäder nebst der Anwendung kühlender Arz¬
neien beseitigten bald die Entzündung. Dies zufällig hinzu¬
getretene Körperleiden übte allem Anschein nach einen wohl¬
thätigen Einfluß auf seinen Seelenzustand aus; er wurde ru¬
higer, bekam einen bessern Appetit, regelmäßige Leibesöffnung,
schlief ruhig, und seine Besserung schritt im nächsten Monate
so auffallend fort, daß er gegen Ende desselben zur vollen Be¬
sinnung zurückgekehrt war. Es wurde nun möglich, mit ihm
über sein bisheriges Leben und über die Veranlassung seines
Seelenleidens längere Gespräche zu führen, aus denen erhellte,
daß er seine Excommunication zwar immer peinlich empfunden
habe, daß er aber dadurch nicht bewogen worden sei, sich von

Familie, und verlangte einen Beichtvater. Der Anfall dauerte
mehrere Stunden, und wurde nach einigen ruhigen Pauſen
noch heftiger. Er lief tobend in der Stube umher, zertruͤm¬
merte das Geraͤth, zerſchlug das Fenſter, und war bemuͤht,
dem Waͤrter Verletzungen beizubringen, weshalb er ſofort in
die Irrenabtheilung verſetzt wurde. Hier artete ſich ſein Zu¬
ſtand ganz auf dieſelbe Weiſe, indem er mehrere Tage und
Naͤchte hindurch ſeine tobſuͤchtige Angſt durch lautes Jammern
uͤber ſeine ſchwere moraliſche Schuld und durch Wehklagen uͤber
ſeine durch ihn ungluͤcklich gewordene Familie verrieth, und keine
Frage genuͤgend beantwortete. Er betheuerte, Alles zur Er¬
leichterung ſeines Gewiſſens geſtehen zu wollen, und gab beſon¬
ders als Urſache ſeiner Verzweiflung an, daß er vor vielen
Jahren in Wien ein uneheliches Kind gezeugt, und ſpaͤter eine
geſchiedene Frau geheirathet habe. Indem er ſich unter den
ausdrucksvollſten Mienen und Geſticulationen den ungluͤcklichſten,
verworfenſten und ſchuldbelaſteſten Mann nannte, verfluchte er
ſeinen Leichtſinn, ſeine Schwaͤche, ſo wie die Strenge ſeiner
Examinatoren, und gedachte jammernd ſeines fruͤheren, nun
auf immer zerſtoͤrten Gluͤcks.

Nachdem dieſer Zuſtand mehrere Tage faſt unveraͤndert
fortgedauert hatte, entſtand unſtreitig in Folge ſeiner heftigen
Bewegungen an dem linken Arm, an welchem er ſchon vor
ſeiner Aufnahme in die Irrenabtheilung zur Ader gelaſſen wor¬
den war, eine Entzuͤndung, indem ſich zugleich ein Eiterge¬
ſchwuͤr an der Aderlaßwunde bildete. Erweichende Umſchlaͤge
und warme Armbaͤder nebſt der Anwendung kuͤhlender Arz¬
neien beſeitigten bald die Entzuͤndung. Dies zufaͤllig hinzu¬
getretene Koͤrperleiden uͤbte allem Anſchein nach einen wohl¬
thaͤtigen Einfluß auf ſeinen Seelenzuſtand aus; er wurde ru¬
higer, bekam einen beſſern Appetit, regelmaͤßige Leibesoͤffnung,
ſchlief ruhig, und ſeine Beſſerung ſchritt im naͤchſten Monate
ſo auffallend fort, daß er gegen Ende deſſelben zur vollen Be¬
ſinnung zuruͤckgekehrt war. Es wurde nun moͤglich, mit ihm
uͤber ſein bisheriges Leben und uͤber die Veranlaſſung ſeines
Seelenleidens laͤngere Geſpraͤche zu fuͤhren, aus denen erhellte,
daß er ſeine Excommunication zwar immer peinlich empfunden
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[125/0133] Familie, und verlangte einen Beichtvater. Der Anfall dauerte mehrere Stunden, und wurde nach einigen ruhigen Pauſen noch heftiger. Er lief tobend in der Stube umher, zertruͤm¬ merte das Geraͤth, zerſchlug das Fenſter, und war bemuͤht, dem Waͤrter Verletzungen beizubringen, weshalb er ſofort in die Irrenabtheilung verſetzt wurde. Hier artete ſich ſein Zu¬ ſtand ganz auf dieſelbe Weiſe, indem er mehrere Tage und Naͤchte hindurch ſeine tobſuͤchtige Angſt durch lautes Jammern uͤber ſeine ſchwere moraliſche Schuld und durch Wehklagen uͤber ſeine durch ihn ungluͤcklich gewordene Familie verrieth, und keine Frage genuͤgend beantwortete. Er betheuerte, Alles zur Er¬ leichterung ſeines Gewiſſens geſtehen zu wollen, und gab beſon¬ ders als Urſache ſeiner Verzweiflung an, daß er vor vielen Jahren in Wien ein uneheliches Kind gezeugt, und ſpaͤter eine geſchiedene Frau geheirathet habe. Indem er ſich unter den ausdrucksvollſten Mienen und Geſticulationen den ungluͤcklichſten, verworfenſten und ſchuldbelaſteſten Mann nannte, verfluchte er ſeinen Leichtſinn, ſeine Schwaͤche, ſo wie die Strenge ſeiner Examinatoren, und gedachte jammernd ſeines fruͤheren, nun auf immer zerſtoͤrten Gluͤcks. Nachdem dieſer Zuſtand mehrere Tage faſt unveraͤndert fortgedauert hatte, entſtand unſtreitig in Folge ſeiner heftigen Bewegungen an dem linken Arm, an welchem er ſchon vor ſeiner Aufnahme in die Irrenabtheilung zur Ader gelaſſen wor¬ den war, eine Entzuͤndung, indem ſich zugleich ein Eiterge¬ ſchwuͤr an der Aderlaßwunde bildete. Erweichende Umſchlaͤge und warme Armbaͤder nebſt der Anwendung kuͤhlender Arz¬ neien beſeitigten bald die Entzuͤndung. Dies zufaͤllig hinzu¬ getretene Koͤrperleiden uͤbte allem Anſchein nach einen wohl¬ thaͤtigen Einfluß auf ſeinen Seelenzuſtand aus; er wurde ru¬ higer, bekam einen beſſern Appetit, regelmaͤßige Leibesoͤffnung, ſchlief ruhig, und ſeine Beſſerung ſchritt im naͤchſten Monate ſo auffallend fort, daß er gegen Ende deſſelben zur vollen Be¬ ſinnung zuruͤckgekehrt war. Es wurde nun moͤglich, mit ihm uͤber ſein bisheriges Leben und uͤber die Veranlaſſung ſeines Seelenleidens laͤngere Geſpraͤche zu fuͤhren, aus denen erhellte, daß er ſeine Excommunication zwar immer peinlich empfunden habe, daß er aber dadurch nicht bewogen worden ſei, ſich von

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Zitationshilfe: Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/133>, abgerufen am 28.03.2024.