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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.

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den kahl geschorenen Scheitel einreiben zu lassen, weil die da¬
durch erzeugte Hautentzündung und Eiterung eins der kräf¬
tigsten Mittel ist, den in wahnsinnige Träume verlorenen Geist
zum besonnenen Bewußtsein der Wirklichkeit zurückzuführen.
Wirklich kehrte er bald darauf zu einiger Besinnung zurück,
und ließ sich nun bereitwillig über alle seine bisherigen Irr¬
thümer, namentlich über die ihm so verderblich gewordene reli¬
giöse Schwärmerei aufklären, wodurch er nur in seinem Wi¬
derwillen gegen die Wiedertäufer bestärkt werden konnte. Er
begriff es, daß auch die Frömmigkeit in bestimmte Grenzen
eingeschlossen werden muß, daß sie niemals den werkthätigen
Fleiß und die eifrige Erfüllung der Pflichten verbannen darf,
welche der Mensch in seiner ganzen Lebensstellung nach allen
Seiten hin üben muß, daß vielmehr gerade die Religion den
stärksten Antrieb geben soll, den persönlichen Beruf gewissen¬
haft zu erfüllen, und daß daher übertriebene Andachtsübun¬
gen, welche ganz heimlich eine sinnbethörende Schwärmerei ein¬
impfen, im offenbaren Widerspruche mit einer ächten, weil that¬
kräftigen Frömmigkeit stehen. Sein ganzes Betragen war mit
dieser wieder gewonnenen richtigen Lebenserkenntniß in voller
Uebereinstimmung, so daß sein früherer tüchtiger Charakter sich
durch Fleiß, Ordnungsliebe und sittliche Aufführung zu erken¬
nen gab. Ein leichter Ruhranfall wurde in kurzer Zeit ohne
schlimme Folgen überstanden, und so konnte er, an Seele und
Leib völlig wieder genesen, zu Anfang des Octobers zu den
Seinigen als liebevoller Gatte und Vater zurückkehren.

3.

W., im Jahre 1810 in Berlin geboren, ist die Tochter
eines Tischlermeisters, welcher mit Nahrungssorgen kämpfend
sich einen sehr ernsten Sinn angeeignet hatte, in fleißigen An¬
dachtsübungen Trost suchte und fand, und daher auch sorg¬
fältig darauf bedacht war, bei seiner Tochter frühzeitig eine
gleiche Gesinnung anzuregen und zu erhalten. Er schickte sie
daher schon vor dem 6ten Jahre in die Schule, und ließ sie
häufig Kirchenlieder und fromme Sprüche auswendig lernen,

den kahl geſchorenen Scheitel einreiben zu laſſen, weil die da¬
durch erzeugte Hautentzuͤndung und Eiterung eins der kraͤf¬
tigſten Mittel iſt, den in wahnſinnige Traͤume verlorenen Geiſt
zum beſonnenen Bewußtſein der Wirklichkeit zuruͤckzufuͤhren.
Wirklich kehrte er bald darauf zu einiger Beſinnung zuruͤck,
und ließ ſich nun bereitwillig uͤber alle ſeine bisherigen Irr¬
thuͤmer, namentlich uͤber die ihm ſo verderblich gewordene reli¬
gioͤſe Schwaͤrmerei aufklaͤren, wodurch er nur in ſeinem Wi¬
derwillen gegen die Wiedertaͤufer beſtaͤrkt werden konnte. Er
begriff es, daß auch die Froͤmmigkeit in beſtimmte Grenzen
eingeſchloſſen werden muß, daß ſie niemals den werkthaͤtigen
Fleiß und die eifrige Erfuͤllung der Pflichten verbannen darf,
welche der Menſch in ſeiner ganzen Lebensſtellung nach allen
Seiten hin uͤben muß, daß vielmehr gerade die Religion den
ſtaͤrkſten Antrieb geben ſoll, den perſoͤnlichen Beruf gewiſſen¬
haft zu erfuͤllen, und daß daher uͤbertriebene Andachtsuͤbun¬
gen, welche ganz heimlich eine ſinnbethoͤrende Schwaͤrmerei ein¬
impfen, im offenbaren Widerſpruche mit einer aͤchten, weil that¬
kraͤftigen Froͤmmigkeit ſtehen. Sein ganzes Betragen war mit
dieſer wieder gewonnenen richtigen Lebenserkenntniß in voller
Uebereinſtimmung, ſo daß ſein fruͤherer tuͤchtiger Charakter ſich
durch Fleiß, Ordnungsliebe und ſittliche Auffuͤhrung zu erken¬
nen gab. Ein leichter Ruhranfall wurde in kurzer Zeit ohne
ſchlimme Folgen uͤberſtanden, und ſo konnte er, an Seele und
Leib voͤllig wieder geneſen, zu Anfang des Octobers zu den
Seinigen als liebevoller Gatte und Vater zuruͤckkehren.

3.

W., im Jahre 1810 in Berlin geboren, iſt die Tochter
eines Tiſchlermeiſters, welcher mit Nahrungsſorgen kaͤmpfend
ſich einen ſehr ernſten Sinn angeeignet hatte, in fleißigen An¬
dachtsuͤbungen Troſt ſuchte und fand, und daher auch ſorg¬
faͤltig darauf bedacht war, bei ſeiner Tochter fruͤhzeitig eine
gleiche Geſinnung anzuregen und zu erhalten. Er ſchickte ſie
daher ſchon vor dem 6ten Jahre in die Schule, und ließ ſie
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[56/0064] den kahl geſchorenen Scheitel einreiben zu laſſen, weil die da¬ durch erzeugte Hautentzuͤndung und Eiterung eins der kraͤf¬ tigſten Mittel iſt, den in wahnſinnige Traͤume verlorenen Geiſt zum beſonnenen Bewußtſein der Wirklichkeit zuruͤckzufuͤhren. Wirklich kehrte er bald darauf zu einiger Beſinnung zuruͤck, und ließ ſich nun bereitwillig uͤber alle ſeine bisherigen Irr¬ thuͤmer, namentlich uͤber die ihm ſo verderblich gewordene reli¬ gioͤſe Schwaͤrmerei aufklaͤren, wodurch er nur in ſeinem Wi¬ derwillen gegen die Wiedertaͤufer beſtaͤrkt werden konnte. Er begriff es, daß auch die Froͤmmigkeit in beſtimmte Grenzen eingeſchloſſen werden muß, daß ſie niemals den werkthaͤtigen Fleiß und die eifrige Erfuͤllung der Pflichten verbannen darf, welche der Menſch in ſeiner ganzen Lebensſtellung nach allen Seiten hin uͤben muß, daß vielmehr gerade die Religion den ſtaͤrkſten Antrieb geben ſoll, den perſoͤnlichen Beruf gewiſſen¬ haft zu erfuͤllen, und daß daher uͤbertriebene Andachtsuͤbun¬ gen, welche ganz heimlich eine ſinnbethoͤrende Schwaͤrmerei ein¬ impfen, im offenbaren Widerſpruche mit einer aͤchten, weil that¬ kraͤftigen Froͤmmigkeit ſtehen. Sein ganzes Betragen war mit dieſer wieder gewonnenen richtigen Lebenserkenntniß in voller Uebereinſtimmung, ſo daß ſein fruͤherer tuͤchtiger Charakter ſich durch Fleiß, Ordnungsliebe und ſittliche Auffuͤhrung zu erken¬ nen gab. Ein leichter Ruhranfall wurde in kurzer Zeit ohne ſchlimme Folgen uͤberſtanden, und ſo konnte er, an Seele und Leib voͤllig wieder geneſen, zu Anfang des Octobers zu den Seinigen als liebevoller Gatte und Vater zuruͤckkehren. 3. W., im Jahre 1810 in Berlin geboren, iſt die Tochter eines Tiſchlermeiſters, welcher mit Nahrungsſorgen kaͤmpfend ſich einen ſehr ernſten Sinn angeeignet hatte, in fleißigen An¬ dachtsuͤbungen Troſt ſuchte und fand, und daher auch ſorg¬ faͤltig darauf bedacht war, bei ſeiner Tochter fruͤhzeitig eine gleiche Geſinnung anzuregen und zu erhalten. Er ſchickte ſie daher ſchon vor dem 6ten Jahre in die Schule, und ließ ſie haͤufig Kirchenlieder und fromme Spruͤche auswendig lernen,

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Zitationshilfe: Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/64>, abgerufen am 25.04.2024.