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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.

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welche einen so tiefen Eindruck auf sie machten, daß sie sich
recht wohl im Herzen fühlte. Ihre frühzeitig verstorbene Mut¬
ter wurde ihr sehr schlecht durch eine Stiefmutter ersetzt, wel¬
che sie bei jeder Gelegenheit mit Schimpfworten, ja mit Schlä¬
gen mißhandelte, ja selbst ihren Vater gegen sie einnahm. In
eine anhaltend trübe, schwermüthige Stimmung versetzt, so daß
ihr die Welt wie eine Wüste vorkam, besaß sie doch so viele
geistige Regsamkeit, daß sie gute Fortschritte im Schulunter¬
richte machte, und deshalb eine Freude am Lernen empfand,
welche ein vorherrschender Zug in ihrem späteren Leben geblie¬
ben ist. Denn aus eigenem Antriebe besuchte sie noch lange
nach ihrer Einsegnung eine Sonntagsschule, selbst so viel es
sich thun ließ in Dienstverhältnissen, in welche sie nach dem
Tode ihres Vaters eintreten mußte, obgleich sie mit man¬
nigfachen Körperbeschwerden in Folge der vielen Entbehrungen
und deprimirenden Gemüthszustände zu kämpfen hatte, wovon
sie durch ärztliche Hülfe nie ganz befreit wurde, weil die Ur¬
sachen fortdauerten. Sie war mit habitueller Hartleibigkeit
geplagt, ihre Augen entzündeten sich häufig in Folge des vie¬
len Weinens, und die Menstruation trat nur selten, ungenü¬
gend und unter großen Beschwerden ein, namentlich litt sie
dann an heftigen Kopfschmerzen, großer Angst und Herzklo¬
pfen, und wurde erst zum Theil davon befreit, als mit dem
23. Jahre die Menstruation zu völliger Entwickelung kam.

Nur einige Jahre brachte sie in Dienstverhältnissen zu,
weil ihr dieselben theils durch Anstrengungen über das Maaß
ihrer schwachen Kräfte, theils durch Rohheit und Unsittlichkeit
in manchen Familien verleidet wurden, z. B. in einer Schenke,
wo sie den brutalen Liebkosungen der Gäste sich oft durch die
Flucht entziehen mußte. Mit Abscheu gegen solche Auftritte
erfüllt, nahm sie Unterricht bei einem Schneider, um sich durch
weibliche Handarbeiten eine äußere Selbstständigkeit zu errin¬
gen, und ergab sich bei einem sehr eingezogenen Leben häufig
den inbrünstigsten Andachtsübungen zum Troste für viele bittere
Erfahrungen über die Schlechtigkeit der meisten Menschen, mit
denen sie in nähere Berührung kam, wie denn auch ihr Ver¬
such, ein freundschaftliches Verhältniß mit einigen jungen Mäd¬
chen zu knüpfen, an der Leichtfertigkeit, Lüsternheit und

welche einen ſo tiefen Eindruck auf ſie machten, daß ſie ſich
recht wohl im Herzen fuͤhlte. Ihre fruͤhzeitig verſtorbene Mut¬
ter wurde ihr ſehr ſchlecht durch eine Stiefmutter erſetzt, wel¬
che ſie bei jeder Gelegenheit mit Schimpfworten, ja mit Schlaͤ¬
gen mißhandelte, ja ſelbſt ihren Vater gegen ſie einnahm. In
eine anhaltend truͤbe, ſchwermuͤthige Stimmung verſetzt, ſo daß
ihr die Welt wie eine Wuͤſte vorkam, beſaß ſie doch ſo viele
geiſtige Regſamkeit, daß ſie gute Fortſchritte im Schulunter¬
richte machte, und deshalb eine Freude am Lernen empfand,
welche ein vorherrſchender Zug in ihrem ſpaͤteren Leben geblie¬
ben iſt. Denn aus eigenem Antriebe beſuchte ſie noch lange
nach ihrer Einſegnung eine Sonntagsſchule, ſelbſt ſo viel es
ſich thun ließ in Dienſtverhaͤltniſſen, in welche ſie nach dem
Tode ihres Vaters eintreten mußte, obgleich ſie mit man¬
nigfachen Koͤrperbeſchwerden in Folge der vielen Entbehrungen
und deprimirenden Gemuͤthszuſtaͤnde zu kaͤmpfen hatte, wovon
ſie durch aͤrztliche Huͤlfe nie ganz befreit wurde, weil die Ur¬
ſachen fortdauerten. Sie war mit habitueller Hartleibigkeit
geplagt, ihre Augen entzuͤndeten ſich haͤufig in Folge des vie¬
len Weinens, und die Menſtruation trat nur ſelten, ungenuͤ¬
gend und unter großen Beſchwerden ein, namentlich litt ſie
dann an heftigen Kopfſchmerzen, großer Angſt und Herzklo¬
pfen, und wurde erſt zum Theil davon befreit, als mit dem
23. Jahre die Menſtruation zu voͤlliger Entwickelung kam.

Nur einige Jahre brachte ſie in Dienſtverhaͤltniſſen zu,
weil ihr dieſelben theils durch Anſtrengungen uͤber das Maaß
ihrer ſchwachen Kraͤfte, theils durch Rohheit und Unſittlichkeit
in manchen Familien verleidet wurden, z. B. in einer Schenke,
wo ſie den brutalen Liebkoſungen der Gaͤſte ſich oft durch die
Flucht entziehen mußte. Mit Abſcheu gegen ſolche Auftritte
erfuͤllt, nahm ſie Unterricht bei einem Schneider, um ſich durch
weibliche Handarbeiten eine aͤußere Selbſtſtaͤndigkeit zu errin¬
gen, und ergab ſich bei einem ſehr eingezogenen Leben haͤufig
den inbruͤnſtigſten Andachtsuͤbungen zum Troſte fuͤr viele bittere
Erfahrungen uͤber die Schlechtigkeit der meiſten Menſchen, mit
denen ſie in naͤhere Beruͤhrung kam, wie denn auch ihr Ver¬
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[57/0065] welche einen ſo tiefen Eindruck auf ſie machten, daß ſie ſich recht wohl im Herzen fuͤhlte. Ihre fruͤhzeitig verſtorbene Mut¬ ter wurde ihr ſehr ſchlecht durch eine Stiefmutter erſetzt, wel¬ che ſie bei jeder Gelegenheit mit Schimpfworten, ja mit Schlaͤ¬ gen mißhandelte, ja ſelbſt ihren Vater gegen ſie einnahm. In eine anhaltend truͤbe, ſchwermuͤthige Stimmung verſetzt, ſo daß ihr die Welt wie eine Wuͤſte vorkam, beſaß ſie doch ſo viele geiſtige Regſamkeit, daß ſie gute Fortſchritte im Schulunter¬ richte machte, und deshalb eine Freude am Lernen empfand, welche ein vorherrſchender Zug in ihrem ſpaͤteren Leben geblie¬ ben iſt. Denn aus eigenem Antriebe beſuchte ſie noch lange nach ihrer Einſegnung eine Sonntagsſchule, ſelbſt ſo viel es ſich thun ließ in Dienſtverhaͤltniſſen, in welche ſie nach dem Tode ihres Vaters eintreten mußte, obgleich ſie mit man¬ nigfachen Koͤrperbeſchwerden in Folge der vielen Entbehrungen und deprimirenden Gemuͤthszuſtaͤnde zu kaͤmpfen hatte, wovon ſie durch aͤrztliche Huͤlfe nie ganz befreit wurde, weil die Ur¬ ſachen fortdauerten. Sie war mit habitueller Hartleibigkeit geplagt, ihre Augen entzuͤndeten ſich haͤufig in Folge des vie¬ len Weinens, und die Menſtruation trat nur ſelten, ungenuͤ¬ gend und unter großen Beſchwerden ein, namentlich litt ſie dann an heftigen Kopfſchmerzen, großer Angſt und Herzklo¬ pfen, und wurde erſt zum Theil davon befreit, als mit dem 23. Jahre die Menſtruation zu voͤlliger Entwickelung kam. Nur einige Jahre brachte ſie in Dienſtverhaͤltniſſen zu, weil ihr dieſelben theils durch Anſtrengungen uͤber das Maaß ihrer ſchwachen Kraͤfte, theils durch Rohheit und Unſittlichkeit in manchen Familien verleidet wurden, z. B. in einer Schenke, wo ſie den brutalen Liebkoſungen der Gaͤſte ſich oft durch die Flucht entziehen mußte. Mit Abſcheu gegen ſolche Auftritte erfuͤllt, nahm ſie Unterricht bei einem Schneider, um ſich durch weibliche Handarbeiten eine aͤußere Selbſtſtaͤndigkeit zu errin¬ gen, und ergab ſich bei einem ſehr eingezogenen Leben haͤufig den inbruͤnſtigſten Andachtsuͤbungen zum Troſte fuͤr viele bittere Erfahrungen uͤber die Schlechtigkeit der meiſten Menſchen, mit denen ſie in naͤhere Beruͤhrung kam, wie denn auch ihr Ver¬ ſuch, ein freundſchaftliches Verhaͤltniß mit einigen jungen Maͤd¬ chen zu knuͤpfen, an der Leichtfertigkeit, Luͤſternheit und

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Zitationshilfe: Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/65>, abgerufen am 25.04.2024.