wußtseyn ihre stereotypen Formeln eingeprägt hat, welche mit Ausschließung aller dialektischen Verstandesthätigkeit auf einen engsten Kreis von Begriffen sich beschränken.
5.
M., 28 Jahre alt, die Tochter eines Colonisten, mußte nach dem frühzeitig erfolgten Tode ihrer Mutter das harte Loos erdulden, von zwei Stiefmüttern, deren erste durch Bösartig¬ keit sogar ihren Vater zur Ehescheidung nöthigte, äußerst lieb¬ los, ja grausam behandelt zu werden. Als Probe dieser schlech¬ ten Erziehung mag es dienen, daß die M. schon als kleines Kind oft gezwungen wurde, auf der Wiese eines Nachbarn Gras für die Kühe zu stehlen, und daß sie unbarmherzig ge¬ züchtigt wurde, wenn sie entweder nicht Futter genug für die¬ selben brachte, oder wenn man ihr den Korb abgepfändet hatte. Mit den kränkendsten Schimpfworten überschüttet, durfte sie sich kaum satt essen, und bei ihrem charakterlosen Vater fand sie gar keinen Schutz gegen diese Unbilden. Dennoch hatte die M. einen lebensfrohen Sinn, welcher bei Spielen mit Altersgenossen sich für alles häusliche Ungemach entschä¬ digte, und da sie überdies stets einer guten Gesundheit sich erfreute, so schritt ihre körperliche Entwickelung ungehindert fort, so daß sie zu einer blühenden und kräftigen Jungfrau heranwuchs.
Eine Reihe von Jahren, welche sie nach erfolgter Ein¬ segnung als Dienstmädchen in mehreren Haushaltungen auf dem Lande und in einer kleinen Stadt zubrachte, verstrich für sie unter sehr drückenden Verhältnissen, da sie fast immer eine harte und kränkende Behandlung, ja selbst bei geringfügigen Veranlassungen zuweilen Schläge erdulden mußte, so daß sie oft der Verzweiflung nahe war. Vielleicht liegt diesen Anga¬ ben von ihr eine theilweise Uebertreibung zum Grunde, wie sie denn auch wohl nicht von aller Schuld frei zu sprechen seyn mag; indeß nach längerer Bekanntschaft mit ihr muß man ihr durchaus das Zeugniß geben, daß sie eine sanfte, friedliebende Gemüthsart besitzt, und daß sie durch Nichts Roh¬
wußtſeyn ihre ſtereotypen Formeln eingepraͤgt hat, welche mit Ausſchließung aller dialektiſchen Verſtandesthaͤtigkeit auf einen engſten Kreis von Begriffen ſich beſchraͤnken.
5.
M., 28 Jahre alt, die Tochter eines Coloniſten, mußte nach dem fruͤhzeitig erfolgten Tode ihrer Mutter das harte Loos erdulden, von zwei Stiefmuͤttern, deren erſte durch Boͤsartig¬ keit ſogar ihren Vater zur Eheſcheidung noͤthigte, aͤußerſt lieb¬ los, ja grauſam behandelt zu werden. Als Probe dieſer ſchlech¬ ten Erziehung mag es dienen, daß die M. ſchon als kleines Kind oft gezwungen wurde, auf der Wieſe eines Nachbarn Gras fuͤr die Kuͤhe zu ſtehlen, und daß ſie unbarmherzig ge¬ zuͤchtigt wurde, wenn ſie entweder nicht Futter genug fuͤr die¬ ſelben brachte, oder wenn man ihr den Korb abgepfaͤndet hatte. Mit den kraͤnkendſten Schimpfworten uͤberſchuͤttet, durfte ſie ſich kaum ſatt eſſen, und bei ihrem charakterloſen Vater fand ſie gar keinen Schutz gegen dieſe Unbilden. Dennoch hatte die M. einen lebensfrohen Sinn, welcher bei Spielen mit Altersgenoſſen ſich fuͤr alles haͤusliche Ungemach entſchaͤ¬ digte, und da ſie uͤberdies ſtets einer guten Geſundheit ſich erfreute, ſo ſchritt ihre koͤrperliche Entwickelung ungehindert fort, ſo daß ſie zu einer bluͤhenden und kraͤftigen Jungfrau heranwuchs.
Eine Reihe von Jahren, welche ſie nach erfolgter Ein¬ ſegnung als Dienſtmaͤdchen in mehreren Haushaltungen auf dem Lande und in einer kleinen Stadt zubrachte, verſtrich fuͤr ſie unter ſehr druͤckenden Verhaͤltniſſen, da ſie faſt immer eine harte und kraͤnkende Behandlung, ja ſelbſt bei geringfuͤgigen Veranlaſſungen zuweilen Schlaͤge erdulden mußte, ſo daß ſie oft der Verzweiflung nahe war. Vielleicht liegt dieſen Anga¬ ben von ihr eine theilweiſe Uebertreibung zum Grunde, wie ſie denn auch wohl nicht von aller Schuld frei zu ſprechen ſeyn mag; indeß nach laͤngerer Bekanntſchaft mit ihr muß man ihr durchaus das Zeugniß geben, daß ſie eine ſanfte, friedliebende Gemuͤthsart beſitzt, und daß ſie durch Nichts Roh¬
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0096"n="88"/>
wußtſeyn ihre ſtereotypen Formeln eingepraͤgt hat, welche mit<lb/>
Ausſchließung aller dialektiſchen Verſtandesthaͤtigkeit auf einen<lb/>
engſten Kreis von Begriffen ſich beſchraͤnken.</p><lb/></div><divn="1"><head>5.<lb/></head><p><hirendition="#b #fr">M</hi><hirendition="#b">.</hi>, 28 Jahre alt, die Tochter eines Coloniſten, mußte<lb/>
nach dem fruͤhzeitig erfolgten Tode ihrer Mutter das harte Loos<lb/>
erdulden, von zwei Stiefmuͤttern, deren erſte durch Boͤsartig¬<lb/>
keit ſogar ihren Vater zur Eheſcheidung noͤthigte, aͤußerſt lieb¬<lb/>
los, ja grauſam behandelt zu werden. Als Probe dieſer ſchlech¬<lb/>
ten Erziehung mag es dienen, daß die M. ſchon als kleines<lb/>
Kind oft gezwungen wurde, auf der Wieſe eines Nachbarn<lb/>
Gras fuͤr die Kuͤhe zu ſtehlen, und daß ſie unbarmherzig ge¬<lb/>
zuͤchtigt wurde, wenn ſie entweder nicht Futter genug fuͤr die¬<lb/>ſelben brachte, oder wenn man ihr den Korb abgepfaͤndet hatte.<lb/>
Mit den kraͤnkendſten Schimpfworten uͤberſchuͤttet, durfte ſie<lb/>ſich kaum ſatt eſſen, und bei ihrem charakterloſen Vater<lb/>
fand ſie gar keinen Schutz gegen dieſe Unbilden. Dennoch<lb/>
hatte die M. einen lebensfrohen Sinn, welcher bei Spielen<lb/>
mit Altersgenoſſen ſich fuͤr alles haͤusliche Ungemach entſchaͤ¬<lb/>
digte, und da ſie uͤberdies ſtets einer guten Geſundheit ſich<lb/>
erfreute, ſo ſchritt ihre koͤrperliche Entwickelung ungehindert<lb/>
fort, ſo daß ſie zu einer bluͤhenden und kraͤftigen Jungfrau<lb/>
heranwuchs.</p><lb/><p>Eine Reihe von Jahren, welche ſie nach erfolgter Ein¬<lb/>ſegnung als Dienſtmaͤdchen in mehreren Haushaltungen auf<lb/>
dem Lande und in einer kleinen Stadt zubrachte, verſtrich fuͤr<lb/>ſie unter ſehr druͤckenden Verhaͤltniſſen, da ſie faſt immer eine<lb/>
harte und kraͤnkende Behandlung, ja ſelbſt bei geringfuͤgigen<lb/>
Veranlaſſungen zuweilen Schlaͤge erdulden mußte, ſo daß ſie<lb/>
oft der Verzweiflung nahe war. Vielleicht liegt dieſen Anga¬<lb/>
ben von ihr eine theilweiſe Uebertreibung zum Grunde, wie<lb/>ſie denn auch wohl nicht von aller Schuld frei zu ſprechen<lb/>ſeyn mag; indeß nach laͤngerer Bekanntſchaft mit ihr muß<lb/>
man ihr durchaus das Zeugniß geben, daß ſie eine ſanfte,<lb/>
friedliebende Gemuͤthsart beſitzt, und daß ſie durch Nichts Roh¬<lb/></p></div></body></text></TEI>
[88/0096]
wußtſeyn ihre ſtereotypen Formeln eingepraͤgt hat, welche mit
Ausſchließung aller dialektiſchen Verſtandesthaͤtigkeit auf einen
engſten Kreis von Begriffen ſich beſchraͤnken.
5.
M., 28 Jahre alt, die Tochter eines Coloniſten, mußte
nach dem fruͤhzeitig erfolgten Tode ihrer Mutter das harte Loos
erdulden, von zwei Stiefmuͤttern, deren erſte durch Boͤsartig¬
keit ſogar ihren Vater zur Eheſcheidung noͤthigte, aͤußerſt lieb¬
los, ja grauſam behandelt zu werden. Als Probe dieſer ſchlech¬
ten Erziehung mag es dienen, daß die M. ſchon als kleines
Kind oft gezwungen wurde, auf der Wieſe eines Nachbarn
Gras fuͤr die Kuͤhe zu ſtehlen, und daß ſie unbarmherzig ge¬
zuͤchtigt wurde, wenn ſie entweder nicht Futter genug fuͤr die¬
ſelben brachte, oder wenn man ihr den Korb abgepfaͤndet hatte.
Mit den kraͤnkendſten Schimpfworten uͤberſchuͤttet, durfte ſie
ſich kaum ſatt eſſen, und bei ihrem charakterloſen Vater
fand ſie gar keinen Schutz gegen dieſe Unbilden. Dennoch
hatte die M. einen lebensfrohen Sinn, welcher bei Spielen
mit Altersgenoſſen ſich fuͤr alles haͤusliche Ungemach entſchaͤ¬
digte, und da ſie uͤberdies ſtets einer guten Geſundheit ſich
erfreute, ſo ſchritt ihre koͤrperliche Entwickelung ungehindert
fort, ſo daß ſie zu einer bluͤhenden und kraͤftigen Jungfrau
heranwuchs.
Eine Reihe von Jahren, welche ſie nach erfolgter Ein¬
ſegnung als Dienſtmaͤdchen in mehreren Haushaltungen auf
dem Lande und in einer kleinen Stadt zubrachte, verſtrich fuͤr
ſie unter ſehr druͤckenden Verhaͤltniſſen, da ſie faſt immer eine
harte und kraͤnkende Behandlung, ja ſelbſt bei geringfuͤgigen
Veranlaſſungen zuweilen Schlaͤge erdulden mußte, ſo daß ſie
oft der Verzweiflung nahe war. Vielleicht liegt dieſen Anga¬
ben von ihr eine theilweiſe Uebertreibung zum Grunde, wie
ſie denn auch wohl nicht von aller Schuld frei zu ſprechen
ſeyn mag; indeß nach laͤngerer Bekanntſchaft mit ihr muß
man ihr durchaus das Zeugniß geben, daß ſie eine ſanfte,
friedliebende Gemuͤthsart beſitzt, und daß ſie durch Nichts Roh¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 88. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/96>, abgerufen am 06.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.