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Immermann, Karl: Der Carneval und die Somnambüle. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 5. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 139–273. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Sie meinte, daß ich zwar wohl nicht sterben werde, wenn sie die Grausame bleibe, daß sie mir aber doch das Jawort geben wolle, weil das Heirathen in der Welt einmal hergebracht sei. So gerieth ich, statt in fremde Länder, in den Ehestand. Das Reisegeld ging zur Einrichtung unsrer Wirthschaft auf, Alles, was ich von Frankreich und Italien weiß, habe ich aus Reisebeschreibungen und durch den mündlichen Unterricht meiner Frau.

Ueberhaupt hätte ich mehr in meinem Leben gesehen, wenn mir nicht zwei fatale Eigenschaften von den Kinderschuhen her anklebten. Ich bin, daß ich es nur gestehe, gar zu gründlich, mir macht ein Gegenstand keine Freude, wenn ich nicht, bevor ich mich ihm nähere, Alles gelesen habe, was von Andern über denselben geschrieben worden ist. Das möchte noch hingehen. Aber was schlimmer ist: jeder Stein unterwegs, jeder Strauch kann mich zerstreuen und vom Ziele ablenken. Ein geistreicher Franzose, mit dem ich mich über diese Sonderbarkeiten unterhielt, sagte lächelnd, daß ich darin nur meine Landsleute repräsentire, die auch vor lauter Denken nie zu den Sachen gekommen seien, und deren Verein, auf dem Wege zu einer Nation, sich bei allerhand italienischen und spanischen Steinen so lange verweilt habe, bis die rechte Zeit vorüber gewesen sei. Ich glaube aber, meine Nativität ist an dem Unheil Schuld gewesen. Mein Vater, der Professor der alten Sprachen, beschäftigte sich gerade neun Monate vor meiner Geburt mit einer Abhandlung über sämmtliche weniger bekannte Aus-

Sie meinte, daß ich zwar wohl nicht sterben werde, wenn sie die Grausame bleibe, daß sie mir aber doch das Jawort geben wolle, weil das Heirathen in der Welt einmal hergebracht sei. So gerieth ich, statt in fremde Länder, in den Ehestand. Das Reisegeld ging zur Einrichtung unsrer Wirthschaft auf, Alles, was ich von Frankreich und Italien weiß, habe ich aus Reisebeschreibungen und durch den mündlichen Unterricht meiner Frau.

Ueberhaupt hätte ich mehr in meinem Leben gesehen, wenn mir nicht zwei fatale Eigenschaften von den Kinderschuhen her anklebten. Ich bin, daß ich es nur gestehe, gar zu gründlich, mir macht ein Gegenstand keine Freude, wenn ich nicht, bevor ich mich ihm nähere, Alles gelesen habe, was von Andern über denselben geschrieben worden ist. Das möchte noch hingehen. Aber was schlimmer ist: jeder Stein unterwegs, jeder Strauch kann mich zerstreuen und vom Ziele ablenken. Ein geistreicher Franzose, mit dem ich mich über diese Sonderbarkeiten unterhielt, sagte lächelnd, daß ich darin nur meine Landsleute repräsentire, die auch vor lauter Denken nie zu den Sachen gekommen seien, und deren Verein, auf dem Wege zu einer Nation, sich bei allerhand italienischen und spanischen Steinen so lange verweilt habe, bis die rechte Zeit vorüber gewesen sei. Ich glaube aber, meine Nativität ist an dem Unheil Schuld gewesen. Mein Vater, der Professor der alten Sprachen, beschäftigte sich gerade neun Monate vor meiner Geburt mit einer Abhandlung über sämmtliche weniger bekannte Aus-

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T12:19:09Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T12:19:09Z)

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Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




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Zitationshilfe: Immermann, Karl: Der Carneval und die Somnambüle. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 5. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 139–273. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/immermann_carneval_1910/10>, abgerufen am 19.04.2024.