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Immermann, Karl: Der Carneval und die Somnambüle. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 5. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 139–273. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Zeit zu verlieren, wir haben gerade acht Uhr, das ist die bestimmte Stunde. -- Er ging und kehrte gleich darauf mit der Dame zurück, sie am Arme führend. Ich sah eine volle, hohe Gestalt, ich sah in zwei dunkle, brennende Augen. Sie zog einen Curbecher aus ihrem Korbe, und sprach mit einer Stimme, die zwischen Furcht und Kühnheit schwankte: Haben Sie die Güte, mein Herr, mir diesen Becher aus der Felsenquelle zu füllen. -- Es ist kein Wasser in der Nähe, versetzte ich, mich umblickend. -- Doch! rief mein Blaukittel, dort unter den Klippen quillt es! -- Er wollte den Becher nehmen. Nein, sagte die Dame, dieser Herr ist der Einzige, der mir den Trunk schöpfen darf. -- Ich empfing mechanisch das Gefäß aus ihrer Hand, klimmte nach dem Orte, den mir der Treiber wies, und fand unter überhängendem Gestein und Farrenkraut den hellsten, kältesten Bergsprudel. Unten in der Spalte glitschte ich aus und zerschnitt mir an einem glasscharfen Quarze den Ballen der linken Hand. Die Dame, welche sich über die Höhe gelehnt hatte, sah mein Blut fließen. Bei diesem Anblicke schrie sie laut auf. -- Seien Sie außer Sorgen! rief ich ihr zu, im Dienste der Damen muß man auch wohl noch mehr Blut vergießen können, als hier fließt. -- Ich trat ernsthaft und langsam, um nichts zu verschütten, mit dem gefüllten Glase zu ihr, und selbst nicht wissend, was die ganze Sache bedeute, um nur etwas zu sagen, redete ich sie so an: Wenn guter Wille und Wünsche zu heilen vermögen, so müssen Sie bald herge-

Zeit zu verlieren, wir haben gerade acht Uhr, das ist die bestimmte Stunde. — Er ging und kehrte gleich darauf mit der Dame zurück, sie am Arme führend. Ich sah eine volle, hohe Gestalt, ich sah in zwei dunkle, brennende Augen. Sie zog einen Curbecher aus ihrem Korbe, und sprach mit einer Stimme, die zwischen Furcht und Kühnheit schwankte: Haben Sie die Güte, mein Herr, mir diesen Becher aus der Felsenquelle zu füllen. — Es ist kein Wasser in der Nähe, versetzte ich, mich umblickend. — Doch! rief mein Blaukittel, dort unter den Klippen quillt es! — Er wollte den Becher nehmen. Nein, sagte die Dame, dieser Herr ist der Einzige, der mir den Trunk schöpfen darf. — Ich empfing mechanisch das Gefäß aus ihrer Hand, klimmte nach dem Orte, den mir der Treiber wies, und fand unter überhängendem Gestein und Farrenkraut den hellsten, kältesten Bergsprudel. Unten in der Spalte glitschte ich aus und zerschnitt mir an einem glasscharfen Quarze den Ballen der linken Hand. Die Dame, welche sich über die Höhe gelehnt hatte, sah mein Blut fließen. Bei diesem Anblicke schrie sie laut auf. — Seien Sie außer Sorgen! rief ich ihr zu, im Dienste der Damen muß man auch wohl noch mehr Blut vergießen können, als hier fließt. — Ich trat ernsthaft und langsam, um nichts zu verschütten, mit dem gefüllten Glase zu ihr, und selbst nicht wissend, was die ganze Sache bedeute, um nur etwas zu sagen, redete ich sie so an: Wenn guter Wille und Wünsche zu heilen vermögen, so müssen Sie bald herge-

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[0021] Zeit zu verlieren, wir haben gerade acht Uhr, das ist die bestimmte Stunde. — Er ging und kehrte gleich darauf mit der Dame zurück, sie am Arme führend. Ich sah eine volle, hohe Gestalt, ich sah in zwei dunkle, brennende Augen. Sie zog einen Curbecher aus ihrem Korbe, und sprach mit einer Stimme, die zwischen Furcht und Kühnheit schwankte: Haben Sie die Güte, mein Herr, mir diesen Becher aus der Felsenquelle zu füllen. — Es ist kein Wasser in der Nähe, versetzte ich, mich umblickend. — Doch! rief mein Blaukittel, dort unter den Klippen quillt es! — Er wollte den Becher nehmen. Nein, sagte die Dame, dieser Herr ist der Einzige, der mir den Trunk schöpfen darf. — Ich empfing mechanisch das Gefäß aus ihrer Hand, klimmte nach dem Orte, den mir der Treiber wies, und fand unter überhängendem Gestein und Farrenkraut den hellsten, kältesten Bergsprudel. Unten in der Spalte glitschte ich aus und zerschnitt mir an einem glasscharfen Quarze den Ballen der linken Hand. Die Dame, welche sich über die Höhe gelehnt hatte, sah mein Blut fließen. Bei diesem Anblicke schrie sie laut auf. — Seien Sie außer Sorgen! rief ich ihr zu, im Dienste der Damen muß man auch wohl noch mehr Blut vergießen können, als hier fließt. — Ich trat ernsthaft und langsam, um nichts zu verschütten, mit dem gefüllten Glase zu ihr, und selbst nicht wissend, was die ganze Sache bedeute, um nur etwas zu sagen, redete ich sie so an: Wenn guter Wille und Wünsche zu heilen vermögen, so müssen Sie bald herge-

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T12:19:09Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T12:19:09Z)

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Zitationshilfe: Immermann, Karl: Der Carneval und die Somnambüle. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 5. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 139–273. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/immermann_carneval_1910/21>, abgerufen am 28.03.2024.