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Immermann, Karl: Der Carneval und die Somnambüle. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 5. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 139–273. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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denn sie wanderte mit mir im Zimmer auf und ab. Es kam eine Art von Gespräch zu Stande, sie zwang sich, von allgemeinen Dingen zu reden; ich mußte die Feinheit ihres Urtheils, die Wahl ihrer Worte bewundern. Und doch war sie mir, leidenschaftlich aufgeregt, noch anziehender vorgekommen, und doch suchte ich, aus Thorheit oder Selbstsucht, die Unterredung wieder auf das Thema ihrer Person zurückzuspielen. Leiden Sie schon lange? fragte ich voll Theilnahme. -- Schon lange war ich beklagenswerth, versetzte sie, seit gestern bin ich elend! Sie bereute diese Worte, sobald sie dieselben hervorgestoßen hatte. Sie wollte mich glauben machen, daß ihre Nervenübel sie gestern mit verdoppelter Stärke angefallen und daß die Schmerzen sie heute noch nicht verlassen hätten. Ich ließ diese Auslegung gelten, der Himmel vergebe mir die andre, welche ich mir selbst im Stillen machte. Sidonie war so schön! -- Meine Lippen bebten, mir wurde sehr warm, ich war im Begriff eine Albernheit zu begehn, als sie auf einmal mit beiden Händen die meinigen ergreifend niedergeschlagnen Blicks zu mir sagte: Ich lese in Ihrer Seele! Aber ich bitte Sie, machen Sie eine Ausnahme von Ihrem Geschlechte, sein Sie kein roher, eitler Mann! Ich gestehe Ihnen, unser gestriges Zusammentreffen hat entschiedenen Einfluß auf mich geübt. Aber bei der Tugend Ihrer Mutter, lassen Sie alle thörichten Einbildungen fahren! Ist es wahr, darf ich glauben, daß ein rasches Gefühl der Freundschaft Sie zu mir hingezogen hat, o so

denn sie wanderte mit mir im Zimmer auf und ab. Es kam eine Art von Gespräch zu Stande, sie zwang sich, von allgemeinen Dingen zu reden; ich mußte die Feinheit ihres Urtheils, die Wahl ihrer Worte bewundern. Und doch war sie mir, leidenschaftlich aufgeregt, noch anziehender vorgekommen, und doch suchte ich, aus Thorheit oder Selbstsucht, die Unterredung wieder auf das Thema ihrer Person zurückzuspielen. Leiden Sie schon lange? fragte ich voll Theilnahme. — Schon lange war ich beklagenswerth, versetzte sie, seit gestern bin ich elend! Sie bereute diese Worte, sobald sie dieselben hervorgestoßen hatte. Sie wollte mich glauben machen, daß ihre Nervenübel sie gestern mit verdoppelter Stärke angefallen und daß die Schmerzen sie heute noch nicht verlassen hätten. Ich ließ diese Auslegung gelten, der Himmel vergebe mir die andre, welche ich mir selbst im Stillen machte. Sidonie war so schön! — Meine Lippen bebten, mir wurde sehr warm, ich war im Begriff eine Albernheit zu begehn, als sie auf einmal mit beiden Händen die meinigen ergreifend niedergeschlagnen Blicks zu mir sagte: Ich lese in Ihrer Seele! Aber ich bitte Sie, machen Sie eine Ausnahme von Ihrem Geschlechte, sein Sie kein roher, eitler Mann! Ich gestehe Ihnen, unser gestriges Zusammentreffen hat entschiedenen Einfluß auf mich geübt. Aber bei der Tugend Ihrer Mutter, lassen Sie alle thörichten Einbildungen fahren! Ist es wahr, darf ich glauben, daß ein rasches Gefühl der Freundschaft Sie zu mir hingezogen hat, o so

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T12:19:09Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T12:19:09Z)

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Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




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Zitationshilfe: Immermann, Karl: Der Carneval und die Somnambüle. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 5. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 139–273. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/immermann_carneval_1910/32>, abgerufen am 29.03.2024.