Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Immermann, Karl: Der Carneval und die Somnambüle. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 5. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 139–273. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

und raffte die Papiere auf, die ich vor Schreck hatte zu Boden fallen lassen. Laß mir mein Eigenthum! rief ich. Bewahre, sagte der einsilbige Schelm und schlug sich seitwärts mit dem Raube in die Büsche. Ich hörte ihn noch eine Weile durch das Strauchwerk brechen und treten, dann wurde der Schall schwächer, und endlich war ich mit dem Stillschweigen in meinem Walde allein.

Da saß ich nun wie Andres, den Don Quixote zu seinem Unheil aus den Händen des Bauers befreite, angebunden an einen Eichenbaum. O gemeines Ende romantischer Stunden! Nun wußte ich auf einmal, was ich zu thun hatte, nämlich: stillzusitzen, ich wußte, was ich lassen sollte, nämlich: fortgehn. Woher war der Verruchte nur so unbemerkt gekommen? Ach, ich gestehe meine Schwachheit, ich dachte nicht an Sidoniens Geschick, ich dachte, ich wollte nichts, als von dem unseligen Stricke los. Keine Möglichkeit! dicht um den Baum und um meinen Leib lag die Fessel, ich meinte zu verzweifeln. Die Sonne stieg, sie beleuchtete einen angebundenen Mann, die Sonne begann zu sinken, ihre Strahlen führten noch immer den Retter nicht herbei. Endlich kam ein Engländer, der auf seinem einsamen Abendspaziergange laut aus einem Buche die Verse las:

To sit on rocks, to muse o'er flood and fell, To slowly trace the forests shady scene, Where things that own not man's dominion dwell And mortal foot hath ne'er or rarely been,

und raffte die Papiere auf, die ich vor Schreck hatte zu Boden fallen lassen. Laß mir mein Eigenthum! rief ich. Bewahre, sagte der einsilbige Schelm und schlug sich seitwärts mit dem Raube in die Büsche. Ich hörte ihn noch eine Weile durch das Strauchwerk brechen und treten, dann wurde der Schall schwächer, und endlich war ich mit dem Stillschweigen in meinem Walde allein.

Da saß ich nun wie Andres, den Don Quixote zu seinem Unheil aus den Händen des Bauers befreite, angebunden an einen Eichenbaum. O gemeines Ende romantischer Stunden! Nun wußte ich auf einmal, was ich zu thun hatte, nämlich: stillzusitzen, ich wußte, was ich lassen sollte, nämlich: fortgehn. Woher war der Verruchte nur so unbemerkt gekommen? Ach, ich gestehe meine Schwachheit, ich dachte nicht an Sidoniens Geschick, ich dachte, ich wollte nichts, als von dem unseligen Stricke los. Keine Möglichkeit! dicht um den Baum und um meinen Leib lag die Fessel, ich meinte zu verzweifeln. Die Sonne stieg, sie beleuchtete einen angebundenen Mann, die Sonne begann zu sinken, ihre Strahlen führten noch immer den Retter nicht herbei. Endlich kam ein Engländer, der auf seinem einsamen Abendspaziergange laut aus einem Buche die Verse las:

To sit on rocks, to muse o'er flood and fell, To slowly trace the forests shady scene, Where things that own not man's dominion dwell And mortal foot hath ne'er or rarely been,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="9">
        <p><pb facs="#f0049"/>
und raffte die Papiere auf, die ich vor Schreck hatte zu Boden fallen      lassen. Laß mir mein Eigenthum! rief ich. Bewahre, sagte der einsilbige Schelm und schlug sich      seitwärts mit dem Raube in die Büsche. Ich hörte ihn noch eine Weile durch das Strauchwerk      brechen und treten, dann wurde der Schall schwächer, und endlich war ich mit dem Stillschweigen      in meinem Walde allein.</p><lb/>
        <p>Da saß ich nun wie Andres, den Don Quixote zu seinem Unheil aus den Händen des Bauers      befreite, angebunden an einen Eichenbaum. O gemeines Ende romantischer Stunden! Nun wußte ich      auf einmal, was ich zu thun hatte, nämlich: stillzusitzen, ich wußte, was ich lassen sollte,      nämlich: fortgehn. Woher war der Verruchte nur so unbemerkt gekommen? Ach, ich gestehe meine      Schwachheit, ich dachte nicht an Sidoniens Geschick, ich dachte, ich wollte nichts, als von dem      unseligen Stricke los. Keine Möglichkeit! dicht um den Baum und um meinen Leib lag die Fessel,      ich meinte zu verzweifeln. Die Sonne stieg, sie beleuchtete einen angebundenen Mann, die Sonne      begann zu sinken, ihre Strahlen führten noch immer den Retter nicht herbei. Endlich kam ein      Engländer, der auf seinem einsamen Abendspaziergange laut aus einem Buche die Verse las:</p><lb/>
        <lg type="poem">
          <l>To sit on rocks, to muse o'er flood and fell,</l>
          <l>To slowly trace the forests shady scene,</l>
          <l>Where things that own not man's dominion dwell</l>
          <l>And mortal foot hath ne'er or rarely been,</l><lb/>
        </lg>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0049] und raffte die Papiere auf, die ich vor Schreck hatte zu Boden fallen lassen. Laß mir mein Eigenthum! rief ich. Bewahre, sagte der einsilbige Schelm und schlug sich seitwärts mit dem Raube in die Büsche. Ich hörte ihn noch eine Weile durch das Strauchwerk brechen und treten, dann wurde der Schall schwächer, und endlich war ich mit dem Stillschweigen in meinem Walde allein. Da saß ich nun wie Andres, den Don Quixote zu seinem Unheil aus den Händen des Bauers befreite, angebunden an einen Eichenbaum. O gemeines Ende romantischer Stunden! Nun wußte ich auf einmal, was ich zu thun hatte, nämlich: stillzusitzen, ich wußte, was ich lassen sollte, nämlich: fortgehn. Woher war der Verruchte nur so unbemerkt gekommen? Ach, ich gestehe meine Schwachheit, ich dachte nicht an Sidoniens Geschick, ich dachte, ich wollte nichts, als von dem unseligen Stricke los. Keine Möglichkeit! dicht um den Baum und um meinen Leib lag die Fessel, ich meinte zu verzweifeln. Die Sonne stieg, sie beleuchtete einen angebundenen Mann, die Sonne begann zu sinken, ihre Strahlen führten noch immer den Retter nicht herbei. Endlich kam ein Engländer, der auf seinem einsamen Abendspaziergange laut aus einem Buche die Verse las: To sit on rocks, to muse o'er flood and fell, To slowly trace the forests shady scene, Where things that own not man's dominion dwell And mortal foot hath ne'er or rarely been,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T12:19:09Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T12:19:09Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/immermann_carneval_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/immermann_carneval_1910/49
Zitationshilfe: Immermann, Karl: Der Carneval und die Somnambüle. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 5. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 139–273. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/immermann_carneval_1910/49>, abgerufen am 28.03.2024.