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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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A. Stellung des Indiv. System der Auton. Erbrecht. §. 31.
rechtliche Schranke, das Verbot des Wuchers,201) aber faktisch
noch eine andere, über die er ebenso wenig sich ohne Gefahr hin-
wegsetzen konnte, unsere bekannte: die öffentliche Meinung. 202)

Das Erbrecht ist das Gebiet des Privatrechts, auf dem
das Prinzip der Autonomie die am weitesten reichende Geltung
gefunden hatte. Von dem oben mitgetheilten Satz der XII
Tafeln, der alles auf den Willen des Testators stellte, gab es
mehr als zwei Jahrhunderte hindurch keine Ausnahme. Am
anstößigsten erscheint uns diese unbeschränkte Testirfreiheit in
ihrer Richtung gegen die Familie, vor allem gegen die Kinder,
die der Vater ohne allen Grund enterben, so wie umgekehrt mit
der Wirkung einsetzen konnte, daß sie ohne und gegen ihren
Willen Erben wurden. Nach unsern obigen Ausführungen wird
es nicht nöthig sein zu bemerken, welche Bewandniß es auch
mit diesem Recht hatte. Man konnte doch zu dem Vater das
Vertrauen haben, daß er sich desselben gegen seine eignen Kinder
nicht in willkührlicher Weise bedienen werde. Nur die Eine Be-
merkung möge mir noch verstattet sein, daß nämlich die münd-
liche
Form der Testamentserrichtung 203) eine nicht unbedeu-
tende Garantie gegen den Mißbrauch jenes Rechts darbot. 204)

201) Als Strafe des Wuchers wird genannt eine öffentliche Anklage und
schwere Geldstrafe Liv. X. 23, und eine Privatklage aufs Vierfache mit ma-
nus injectio (Gaj. IV. 23. Cato de re rust. in praef.).
202) Eine Verletzung derselben durch Grausamkeit und Willkühr gegen
die Schuldner führte nicht selten zu Unruhen und Aufläufen, die für die
Gläubiger sehr gefährlich werden konnten. So z. B. Liv. II. 27: metusque
omnis et periculum libertatis in creditores a debitoribus verterat. VI,
14. VIII,
28.
203) S. oben S. 13.
204) Bei der also der Testator seinen letzten Willen den Zeugen zu offen-
baren hatte. Man denke sich aber nur die Sache, wie sie sich von selbst
machen mußte. Die Zeugen, die der Testator zuzog, waren doch keine wild-
fremden Leute, sondern näher stehende Personen, die sein Vertrauen be-
saßen, mit denen er sich besprach und die ihm zureden konnten, ja die sich im
äußersten Fall weigern mochten, zu einem Testament von solchem Inhalt mit-
zuwirken. Freilich konnten sie ihn nicht hindern, seinen Willen, wenn er dabei
11*

A. Stellung des Indiv. Syſtem der Auton. Erbrecht. §. 31.
rechtliche Schranke, das Verbot des Wuchers,201) aber faktiſch
noch eine andere, über die er ebenſo wenig ſich ohne Gefahr hin-
wegſetzen konnte, unſere bekannte: die öffentliche Meinung. 202)

Das Erbrecht iſt das Gebiet des Privatrechts, auf dem
das Prinzip der Autonomie die am weiteſten reichende Geltung
gefunden hatte. Von dem oben mitgetheilten Satz der XII
Tafeln, der alles auf den Willen des Teſtators ſtellte, gab es
mehr als zwei Jahrhunderte hindurch keine Ausnahme. Am
anſtößigſten erſcheint uns dieſe unbeſchränkte Teſtirfreiheit in
ihrer Richtung gegen die Familie, vor allem gegen die Kinder,
die der Vater ohne allen Grund enterben, ſo wie umgekehrt mit
der Wirkung einſetzen konnte, daß ſie ohne und gegen ihren
Willen Erben wurden. Nach unſern obigen Ausführungen wird
es nicht nöthig ſein zu bemerken, welche Bewandniß es auch
mit dieſem Recht hatte. Man konnte doch zu dem Vater das
Vertrauen haben, daß er ſich deſſelben gegen ſeine eignen Kinder
nicht in willkührlicher Weiſe bedienen werde. Nur die Eine Be-
merkung möge mir noch verſtattet ſein, daß nämlich die münd-
liche
Form der Teſtamentserrichtung 203) eine nicht unbedeu-
tende Garantie gegen den Mißbrauch jenes Rechts darbot. 204)

201) Als Strafe des Wuchers wird genannt eine öffentliche Anklage und
ſchwere Geldſtrafe Liv. X. 23, und eine Privatklage aufs Vierfache mit ma-
nus injectio (Gaj. IV. 23. Cato de re rust. in praef.).
202) Eine Verletzung derſelben durch Grauſamkeit und Willkühr gegen
die Schuldner führte nicht ſelten zu Unruhen und Aufläufen, die für die
Gläubiger ſehr gefährlich werden konnten. So z. B. Liv. II. 27: metusque
omnis et periculum libertatis in creditores a debitoribus verterat. VI,
14. VIII,
28.
203) S. oben S. 13.
204) Bei der alſo der Teſtator ſeinen letzten Willen den Zeugen zu offen-
baren hatte. Man denke ſich aber nur die Sache, wie ſie ſich von ſelbſt
machen mußte. Die Zeugen, die der Teſtator zuzog, waren doch keine wild-
fremden Leute, ſondern näher ſtehende Perſonen, die ſein Vertrauen be-
ſaßen, mit denen er ſich beſprach und die ihm zureden konnten, ja die ſich im
äußerſten Fall weigern mochten, zu einem Teſtament von ſolchem Inhalt mit-
zuwirken. Freilich konnten ſie ihn nicht hindern, ſeinen Willen, wenn er dabei
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[163/0177] A. Stellung des Indiv. Syſtem der Auton. Erbrecht. §. 31. rechtliche Schranke, das Verbot des Wuchers, 201) aber faktiſch noch eine andere, über die er ebenſo wenig ſich ohne Gefahr hin- wegſetzen konnte, unſere bekannte: die öffentliche Meinung. 202) Das Erbrecht iſt das Gebiet des Privatrechts, auf dem das Prinzip der Autonomie die am weiteſten reichende Geltung gefunden hatte. Von dem oben mitgetheilten Satz der XII Tafeln, der alles auf den Willen des Teſtators ſtellte, gab es mehr als zwei Jahrhunderte hindurch keine Ausnahme. Am anſtößigſten erſcheint uns dieſe unbeſchränkte Teſtirfreiheit in ihrer Richtung gegen die Familie, vor allem gegen die Kinder, die der Vater ohne allen Grund enterben, ſo wie umgekehrt mit der Wirkung einſetzen konnte, daß ſie ohne und gegen ihren Willen Erben wurden. Nach unſern obigen Ausführungen wird es nicht nöthig ſein zu bemerken, welche Bewandniß es auch mit dieſem Recht hatte. Man konnte doch zu dem Vater das Vertrauen haben, daß er ſich deſſelben gegen ſeine eignen Kinder nicht in willkührlicher Weiſe bedienen werde. Nur die Eine Be- merkung möge mir noch verſtattet ſein, daß nämlich die münd- liche Form der Teſtamentserrichtung 203) eine nicht unbedeu- tende Garantie gegen den Mißbrauch jenes Rechts darbot. 204) 201) Als Strafe des Wuchers wird genannt eine öffentliche Anklage und ſchwere Geldſtrafe Liv. X. 23, und eine Privatklage aufs Vierfache mit ma- nus injectio (Gaj. IV. 23. Cato de re rust. in praef.). 202) Eine Verletzung derſelben durch Grauſamkeit und Willkühr gegen die Schuldner führte nicht ſelten zu Unruhen und Aufläufen, die für die Gläubiger ſehr gefährlich werden konnten. So z. B. Liv. II. 27: metusque omnis et periculum libertatis in creditores a debitoribus verterat. VI, 14. VIII, 28. 203) S. oben S. 13. 204) Bei der alſo der Teſtator ſeinen letzten Willen den Zeugen zu offen- baren hatte. Man denke ſich aber nur die Sache, wie ſie ſich von ſelbſt machen mußte. Die Zeugen, die der Teſtator zuzog, waren doch keine wild- fremden Leute, ſondern näher ſtehende Perſonen, die ſein Vertrauen be- ſaßen, mit denen er ſich beſprach und die ihm zureden konnten, ja die ſich im äußerſten Fall weigern mochten, zu einem Teſtament von ſolchem Inhalt mit- zuwirken. Freilich konnten ſie ihn nicht hindern, ſeinen Willen, wenn er dabei 11*

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 163. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/177>, abgerufen am 28.03.2024.